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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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die Sonne strahlend über das leise grollende Meer geklettert, ich begegnete einer italienischen Streife, die einen neugierigen Blick auf meine Uniform warf, aber nichts sagte; kurz bevor ich in den Bus stieg, kam ein französischer Polizist in Begleitung zweier Bersaglieri auf mich zu und verlangte meine Papiere: Als ich sie ihm zeigte und ihm den Brief des Marseiller Einsatzkommandos übersetzte, salutierte er und ließ mich fahren. Das war gut so, ich wäre unfähig zu einer Diskussion gewesen, ich war starr vor Angst, meine Gedanken wie eingefroren. Im Bus fiel mir ein, dass ich meinen Anzug und meine gesamte Kleidung vom Vortag vergessen hatte. Auf dem Bahnhof in Marseille musste ich mich eine Stunde gedulden, ich bestellte einen Kaffee und trank ihn am Buffet, im Stimmengewirr der großen Halle. Ich musste nachdenken. Es hatte doch bestimmt Schreie und Lärm gegeben; wie war es möglich, dass ich nicht wach geworden war? Ich hatte nur ein Glas Wein getrunken. Und dann hatte der Mann die Zwillinge nicht getötet, sie mussten geschrien haben. Warum waren sie nicht gekommen, um mich zu holen? Was hatten sie dort still und stumm gemacht, als ich erwacht war? Der Mörder hatte das Haus offenbar nicht durchsucht, jedenfalls war er nicht in mein Zimmer gekommen. Und wer war er? Ein Räuber, ein Dieb? Aber es schiennichts angerührt, durcheinander, in Unordnung gebracht worden zu sein. Vielleicht hatten die Zwillinge ihn überrascht, und er war geflohen. Aber das ergab keinen Sinn, sie hatten nicht geschrien, sie hatten mich nicht geholt. War der Mörder allein gewesen? Mein Zug kam, ich stieg ein, setzte mich und hing weiter meinen Gedanken nach. Wenn es kein Dieb gewesen war, keine Diebe, was dann? Eine Abrechnung? Ein Geschäft von Moreau, das gründlich danebengegangen war? Hatten die Partisanen des Maquis ein Exempel statuiert? Doch die Partisanen schlachteten ihre Opfer nicht wie Wilde mit der Axt ab; sie führten sie in den Wald, machten ihnen einen Scheinprozess und erschossen sie. Und abermals, ich war nicht wach geworden, ich, der ich einen so leichten Schlaf hatte, ich verstand das nicht, die Angst lähmte mich, ich lutschte an meinen fast verheilten Fingern, meine Gedanken drehten sich im Kreis, schlugen im stoßenden Rhythmus des Zugs wilde Kapriolen, ich wusste gar nichts mehr, nichts ergab einen Sinn. In Paris erwischte ich mühelos den Mitternachtsexpress nach Berlin; dort nahm ich wieder ein Zimmer im selben Hotel. Alles war ruhig, still, einige Autos fuhren vorbei, die Elefanten, die ich mir immer noch nicht angesehen hatte, trompeteten im Licht der Morgendämmerung. Ich hatte einige Stunden im Zug geschlafen, es war ein schwarzer, traumloser Schlaf gewesen; ich war noch erschöpft, konnte mich aber unmöglich wieder hinlegen. Meine Schwester, sagte ich mir schließlich, ich muss Una Bescheid sagen. Ich ging zum Kaiserhof : Ob Freiherr von Üxküll eine Adresse hinterlassen habe? »Wir dürfen die Adressen unserer Gäste nicht herausgeben, Herr Sturmbannführer«, wurde ich beschieden. Aber es lasse sich doch zumindest ein Telegramm aufgeben? Es handle sich um eine dringende Familienangelegenheit. Das ja, das sei möglich. Ich bat um ein Formular und schrieb auf dem Tresen der Rezeption: MAMA TOT ERMORDET STOPP MOREAU AUCH STOPP BIN IN BERLIN RUFMICH AN STOPP und fügte die Nummer des Hotels Eden hinzu. Dann gab ich es mitsamt einem Zehnmarkschein dem Portier; der las den Text mit betroffener Miene durch und sagte mit einer leichten Verbeugung: »Mein Beileid, Herr Sturmbannführer.« – »Schicken Sie es gleich ab?« – »Ich rufe die Post sofort an, Herr Sturmbannführer.« Er gab mir das Wechselgeld heraus, ich kehrte ins Eden zurück und bat darum, mich sofort zu holen, wenn ein Anruf für mich käme, egal, wie spät es sei. Ich musste bis zum Abend warten. Ich nahm den Anruf in einer glücklicherweise schallisolierten Kabine neben der Rezeption entgegen. Unas Stimme war voller Panik: »Was ist passiert?« Ich hörte, dass sie geweint hatte. Ich begann so ruhig wie möglich: »Ich war in Antibes, ich habe sie besucht. Gestern Morgen …« Meine Stimme versagte. Ich räusperte mich und fing erneut an: »Gestern Morgen bin ich aufgewacht …« Meine Stimme brach, und ich konnte nicht fortfahren. Ich hörte meine Schwester ausrufen: »Was ist los? Was ist passiert?« – »Warte«, sagte ich rau und ließ den Hörer sinken, während ich versuchte, mich wieder zu fassen. Noch nie hatte ich derart

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