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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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einen raschen Kuss auf die Wange. Sie hatte wohl ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, obwohl die Gewalt eher seelischer als physischer Natur gewesen sein dürfte. Die guten Schwestern seien, sagte sie, alle neurotisch, verklemmt und frigide . Ich lachte und fragte sie, woher sie diese Ausdrücke habe; die kleinen Mädchen in ihren Pensionaten, antwortete sie mit einem fröhlichen Lachen, bestächen die Hausmeister nicht mehr, damit sie ihnen Voltaire und Rousseau besorgten, sondernFreud, Spengler und Proust, und wenn ich die noch nicht gelesen hätte, sei es höchste Zeit, das nachzuholen. Moreau blieb stehen, um uns eine Eistüte zu kaufen. Als er wieder zu unserer Mutter aufgeschlossen hatte, setzten wir unsere Unterhaltung fort. Dieses Mal sprach ich von unserem Vater. »Er ist nicht tot«, flüsterte ich ihr leidenschaftlich zu. »Ich weiß«, sagte sie. »Und selbst wenn er es wäre, hätten sie nicht das Recht, ihn zu begraben.« – »Ums Begraben geht es gar nicht. Es ist, als hätten sie ihn umgebracht. Mit ihren Papieren umgebracht. Wie abscheulich! Für ihre ekelhafte Lust.« – »Weißt du«, sagte sie dann, »ich glaube, sie liebt ihn.« – »Ist mir gleich!«, stieß ich hervor. »Sie hat unseren Vater geheiratet, sie ist seine Frau. Das ist die Wahrheit. Kein Richter kann etwas daran ändern.« Sie blieb stehen und sah mich an: »Du hast sicherlich Recht.« Doch schon rief uns unsere Mutter, wir gingen zu ihr und leckten an unserem Vanilleeis.
    In der Stadt trank ich irgendwo einen Weißwein an der Theke, meine Gedanken kreisten noch immer um diese Dinge, und ich sagte mir, dass ich gesehen hätte, weswegen ich gekommen sei, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was das war; ich dachte schon an Abreise. Ich ging zum Schalter an der Bushaltestelle und kaufte für den folgenden Tag eine Karte nach Marseille, auf dem Bahnhof gleich nebenan dann einen Zugfahrschein nach Paris, ich hätte direkten Anschluss und würde am Abend dort sein. Danach kehrte ich zu meiner Mutter zurück. Rund um das Haus erstreckte sich der Park ruhig und still, nur das leise Rascheln der von der Meeresbrise liebkosten Nadeln durchlief ihn. Die Glastür zum Salon war offen geblieben: Ich trat näher und rief, niemand antwortete. Vielleicht halten sie Siesta, sagte ich mir. Ich war auch müde, sicher vom Wein und der Sonne; ich ging um das Haus herum und stieg die Haupttreppe hinauf, ohne jemandem zu begegnen. Mein Zimmer war dunkel und kühl. Ich legte mich hin und schlief ein. Als ich wieder aufwachte,hatte sich das Licht verändert, es war sehr dunkel: In der Tür erblickte ich die Zwillinge, die nebeneinanderstanden und mich mit ihren großen runden Augen ansahen. »Was wollt ihr?«, fragte ich. Bei diesen Worten wichen sie wie auf Kommando zurück und verschwanden. Ich hörte ihre kleinen Schritte auf den Holzdielen, dann die große Treppe hinabeilen. Die Haustür fiel ins Schloss, es herrschte wieder Stille. Ich setzte mich auf die Bettkante und bemerkte, dass ich nackt war; doch ich hatte nicht die geringste Erinnerung daran, aufgestanden zu sein, um mich auszuziehen. Meine verletzten Finger taten weh, geistesabwesend lutschte ich an ihnen. Dann betätigte ich den Lichtschalter und wollte mit zusammengekniffenen Augen nach der Uhrzeit sehen: Meine Uhr auf dem Nachttisch war stehengeblieben. Ich blickte mich um, konnte aber meine Kleidung nicht entdecken. Wo war sie? Ich nahm frische Wäsche aus dem Kleidersack und holte meine Uniform aus dem Schrank. Mein Bart kratzte, aber ich beschloss, mich später zu rasieren, und zog mich erst einmal an. Ich ging die Dienstbotentreppe hinunter. Die Küche war leer, der Herd kalt. Ich ging zum Lieferanteneingang: Draußen, auf der Seeseite, begann der Morgen zu grauen und tauchte den Horizont in einen schwachen rosa Schimmer. Merkwürdig, dass die Zwillinge so früh aufgestanden sind, sagte ich mir. Hatte ich tatsächlich das Abendessen verschlafen? Ich war wohl müder gewesen, als ich dachte. Mein Bus fuhr früh ab, ich musste mich fertig machen. Ich schloss die Tür, stieg die drei Stufen zum Salon hinauf, trat ein und ertastete mir den Weg zur Glastür. Im Halbdunkel stieß ich gegen etwas Weiches auf dem Teppich. Die Berührung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich wich bis zum Schalter des Kronleuchters zurück, griff mit der Hand hinter mich, ohne mich umzuwenden, und drehte den Schalter. Das Licht ergoss sich aus mehreren Glühbirnen, bleich, fast grell. Ich starrte

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