Die Wohlgesinnten
sei immer auf ihrer Seite gewesen und habe mit den Deutschen nur zum Schein zusammengearbeitet. Was auch passiert, er wird seine Schäfchen schon ins Trockene bringen, der alte Löwe, so feig und zahnlos er auch ist. Selbst wenn die Zwillinge keine Juden waren, ich war sicher, er hatte Juden versteckt: Die Gelegenheit war einfach zu günstig (bei den Italienern riskierte er gar nichts), sich für später eine weiße Weste zu verschaffen. Aber, dachte ich wütend, wir werden ihm schon zeigen, ihm und seinesgleichen, wozu Deutschland fähig ist; noch sind wir nicht erledigt. Auch meine Mutter schwieg. Nach der Mahlzeit erklärte ich, einen Spaziergang machen zu wollen. Ich ging durch den Park, durch das immer noch halb offen stehende Gittertor und kletterte zum Strand hinunter. Unterwegs vermischte sich der Salzgeruch des Meeres mit dem kräftigen Kiefernduft, und wieder meldete sich die Vergangenheit zu Wort, die glücklicheVergangenheit, die in diese Düfte getaucht war, aber auch die unglückliche. Am Strand wandte ich mich nach rechts, dem Hafen und der Stadt zu. Am Fuß des Fort Carré, auf einem Streifen Land, der das Meer überragte und von Pinien gesäumt war, lag ein Sportplatz, auf dem Kinder Ball spielten. Ich war ein zartes Kind gewesen und hatte keinen Sport gemocht, ich hatte lieber gelesen; doch Moreau, der mich zu schwächlich fand, hatte meiner Mutter geraten, mich in einen Fußballverein zu stecken; daher hatte ich auch auf diesem Platz gespielt. Es war kein großer Erfolg gewesen. Da ich nicht gerne lief, hatte man mich ins Tor gestellt; eines Tages schoss mir ein Kind den Ball so hart gegen die Brust, dass ich ins Netz geschleudert wurde. Ich erinnere mich noch heute daran, wie ich dort lag und durch die Maschen auf die im Wind wogenden Wipfel der Pinien blickte, bis der Betreuer endlich kam, um zu sehen, ob ich bewusstlos war. Etwas später fand unser erstes Spiel gegen einen anderen Verein statt. Der Mannschaftsführer wollte nicht, dass ich spielte; in der zweiten Halbzeit ließ er mich endlich auf den Platz. Irgendwie ergab es sich, ich weiß nicht wie, dass ich den Ball am Fuß hatte und aufs Tor zulief. Vor mir war alles frei, die Zuschauer brüllten, pfiffen, ich sah nur noch das Tor, der hilflose Torwart versuchte mich aufzuhalten und fuchtelte mit den Armen herum, ich ließ mich nicht stoppen und schoss ein, aber es war das Tor meiner eigenen Mannschaft: In der Kabine wurde ich von den anderen Jungen durchgeprügelt, und fortan ließ ich das Fußballspielen. Hinter dem Fort kommt der weite Bogen des Port Vauban, ein großer Naturhafen, in dem Fischerboote und die Avisos der italienischen Kriegsmarine dümpelten. Ich setzte mich auf eine Bank, steckte mir eine Zigarette an und betrachtete die Möwen, die die Fischerboote umkreisten. Ich war oft hierher gekommen. 1930, kurz vor meinem Abitur, hatten wir in den Osterferien einen Spaziergang gemacht. Ich hatte Antibes fast ein Jahrlang gemieden, seit meine Mutter Moreau geheiratet hatte, doch in diesen Ferien hatte sie es geschickt eingefädelt: Sie schrieb mir, ohne auf das Geschehene oder meinen beleidigenden Brief mit einem Wort einzugehen, Una komme zum Fest nach Hause und würde sich freuen, mich wiederzusehen. Seit drei Jahren hielten sie uns getrennt: Diese Schweine, sagte ich mir, aber ich konnte es nicht ablehnen, und das wussten sie. Bei unserem Wiedersehen waren wir verlegen und sprachen kaum; natürlich ließen meine Mutter und Moreau uns praktisch nie allein. Bei meiner Ankunft hatte Moreau mich beiseitegenommen: »Keine Sauereien, klar? Ich behalte dich im Auge.« Für diesen bornierten Spießer stand fest, dass ich sie verführt hatte. Ich sagte nichts, aber als sie endlich da war, wusste ich, dass ich sie mehr denn je liebte. Mitten im Salon streifte sie mich im Vorbeigehen – ihr Handrücken berührte den meinen für den Bruchteil einer Sekunde –, und es war wie ein elektrischer Schlag, der mich auf dem Fußboden festnagelte, ich musste mir auf die Lippe beißen, um nicht laut aufzuschreien. Und dann hatten wir einen Spaziergang rund um den Hafen gemacht. Unsere Mutter und Moreau waren vorangegangen, dort, nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem ich saß und an diesen Augenblick zurückdachte; ich hatte mit meiner Schwester über die Schule gesprochen, die Priester, die Sittenlosigkeit und Rohheit meiner Klassenkameraden. Ich erzählte ihr auch, dass ich etwas mit Jungen gehabt hatte. Sie lächelte sanft und gab mir
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