Die Wohlgesinnten
die Kontrolle über meine Stimme verloren; selbst in den schlimmsten Augenblicken war ich immer in der Lage gewesen, klar und exakt Bericht zu erstatten. Ich hüstelte, dann hob ich den Hörer wieder ans Ohr und schilderte ihr in wenigen Worten, was geschehen war. Sie hatte nur eine einzige Frage, panisch, außer sich: »Und die Zwillinge? Wo sind die Zwillinge?« Und da drehte ich durch, ich begann in der Kabine zu toben, schlug mit dem Rücken, der Faust, den Füßen gegen die Wände und brüllte in den Hörer: »Wer sind denn diese Zwillinge?! Zu wem gehören diese verfluchten Gören?« Durch den Lärm aufgeschreckt, war ein Hotelpage vor der Kabine stehen geblieben und betrachtete mich durch die Glasscheibe. Mühsam beruhigte ich mich. Meine Schwester am anderen Ende der Leitung schwieg. Ich atmete tief durch und sagte inden Hörer: »Sie leben. Ich weiß nicht, wo sie hin sind.« Sie sagte nichts, ich glaubte ihr Atmen durch das Knistern der Fernleitung zu vernehmen. »Bist du noch da?« Keine Antwort. »Wessen Kinder sind das?«, fragte ich wieder, leise dieses Mal. Sie gab noch immer keine Antwort. »Scheiße!«, brüllte ich und knallte den Hörer auf die Gabel. Dann stürmte ich aus der Kabine und baute mich vor der Rezeption auf. Ich nahm mein Adressbuch, suchte eine Telefonnummer heraus, kritzelte sie auf ein Stück Papier und reichte es dem Portier. Einen Augenblick später läutete das Telefon in der Kabine. Ich nahm den Hörer ab, eine Frauenstimme. »Guten Abend«, sagte ich. »Sturmbannführer Aue. Ich möchte Dr. Mandelbrod sprechen.« – »Tut mir leid, Herr Sturmbannführer. Dr. Mandelbrod ist nicht zu sprechen. Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?« – »Ich möchte mich mit ihm treffen.« Ich nannte ihr die Nummer des Hotels und ging wieder hinauf in mein Zimmer. Eine Stunde später brachte mir ein Etagenkellner die Nachricht: Dr. Mandelbrod erwarte mich am folgenden Tag um zehn Uhr. Dieselben Frauen, oder andere, die ihnen glichen, führten mich hinein. In dem großen hellen Büro voller Katzen erwartete mich Mandelbrod am Couchtisch; Herr Leland, aufrecht und mager, in einem gestreiften Zweireiher, saß neben ihm. Ich gab ihnen die Hand und setzte mich zu ihnen. Dieses Mal wurde kein Tee gereicht. Mandelbrod ergriff das Wort: »Ich freue mich, dich zu sehen. Hast du einen schönen Urlaub gehabt?« Tief in seiner Speckschicht schien er zu lächeln. »Hast du Zeit gehabt, über meinen Vorschlag nachzudenken?« – »Ja, Herr Doktor. Doch ich hätte einen anderen Wunsch. Ich würde gerne zur Waffen-SS wechseln und an die Front gehen.« Mandelbrod machte eine leichte Bewegung, als zucke er die Achseln. Leland fixierte mich mit einem harten, kalten durchdringenden Blick. Ich wusste, dass er ein Glasauge hatte, hatte aber nie herausfinden können, welches es war. Erantwortete mit einer rauen Stimme, in der ein ganz leichter Akzent anklang: »Das ist unmöglich. Wir haben deine Krankenberichte gesehen: Aufgrund deiner Verwundung giltst du als schwerkriegsbeschädigt, du darfst nur noch Büroarbeiten machen.« Ich blickte ihn an und stammelte: »Aber die brauchen doch Männer. Überall werden die Leute eingezogen.« – »Schon«, sagte Mandelbrod, »trotzdem nehmen sie nicht jeden. Vorschrift ist Vorschrift.« – »Du wirst nie wieder kv geschrieben«, stellte Leland nachdrücklich fest. »Ja«, fuhr Mandelbrod fort, »und für Frankreich besteht auch wenig Hoffnung. Nein, du solltest uns vertrauen.« Ich stand auf: »Meine Herren, ich danke Ihnen, dass Sie mich empfangen haben. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie gestört habe.« – »Keine Ursache, mein Kleiner«, wisperte Mandelbrod. »Lass dir Zeit, denk noch einmal darüber nach.« – »Aber denk daran«, fügte Leland streng hinzu, »ein Frontsoldat kann sich seinen Platz nicht aussuchen. Er hat seine Pflicht zu tun, wo immer er gerade steht.«
Vom Hotel aus schickte ich ein Telegramm an Werner Best in Dänemark, in dem ich ihm mitteilte, ich sei nun doch gewillt, eine Stelle in seiner Verwaltung anzutreten. Dann wartete ich. Meine Schwester rief nicht zurück, ich versuchte auch nicht, sie zu erreichen. Drei Tage später brachte man mir einen Umschlag des Auswärtigen Amts; es war Bests Antwort: Die Lage in Dänemark habe sich verändert, er könne mir im Augenblick nichts anbieten. Ich zerknüllte den Umschlag und warf ihn fort. Ich spürte Bitterkeit und Furcht in mir aufsteigen, ich musste unbedingt etwas unternehmen, sonst würde
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