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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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hinter dem großen Boulevard. Die Tür war verschlossen; als Thomas klopfte, öffnete sie sich erst einen Spalt und wurde gleich darauf weit aufgerissen, sodass wir in einen halbdunklen, von Kerzenlicht erhellten Innenraum blicken konnten. »Nur für Deutsche«, sagte Thomas lächelnd. »Ah, Professor, guten Abend.« Die Abwehroffiziere waren bereits anwesend, sonst jedoch niemand. Den größeren der beiden – den, den Thomas begrüßt hatte – erkannte ich sofort, einen noch jugendlichen, sehr kultiviert aussehenden Herrn, dessen kleine braune Augen in dem runden glatten Mondgesicht funkelten. Er trug sein Haar etwas zu lang und seitwärts zu einer höchst unmilitärischen Tolle gelegt. Ich gab ihm meinerseits die Hand: »Wie schön, Sie wiederzusehen, Professor Oberländer.« Er betrachtete mich prüfend. »Kennen wir uns?« – »Ich bin Ihnen vor einigen Jahren nach Ihren Vorlesungen an der Universität Berlin vorgestellt worden. Durch Reinhard Höhn, meinen Professor.« – »Ah, Sie haben bei Höhn studiert? Ausgezeichnet.« – »Mein Freund Dr. Aue ist einer der aufgehenden Sterne am SD-Himmel«, ließ Thomas maliziös einfließen. »Wenn er ein Schüler von Höhn ist, wundert mich das nicht. Man könnte meinen, der ganze SDsei durch seine Hände gegangen.« Er wies auf seinen Kameraden: »Aber ich habe Ihnen meinen Stellvertreter Hauptmann Weber noch nicht vorgestellt.« Mir fiel die blau-gelbe Paspelierung ihrer Schulterstücke auf, die ich schon nachmittags bei einigen Soldaten bemerkt hatte. »Entschuldigen Sie meine Unwissenheit«, sagte ich, während wir uns setzten, »aber was bedeutet diese Paspelierung?« – »Das ist das Abzeichen des Bataillons Nachtigall, einer Sondereinheit der Abwehr, die von ukrainischen Nationalisten aus Westgalizien gestellt wird.« – »Professor Oberländer ist der Kommandeur der Nachtigallen. So gesehen, sind wir Konkurrenten«, erläuterte Thomas. »Sie übertreiben, Hauptsturmführer.« – »Durchaus nicht. Sie setzen auf Bandera, wir auf Melnyk und das Berliner Komitee.« Sofort belebte sich die Diskussion. Es wurde Wein eingeschenkt. »Bandera kann uns nützlich sein«, bestätigte Oberländer. »Inwiefern?«, entgegnete Thomas. »Die Typen sind doch außer Rand und Band. Nach Belieben und ohne Absprache verbreiten sie alle möglichen Proklamationen. Unabhängigkeit! Lachhaft.« – »Und Sie glauben, mit Melnyk ginge es besser?« – »Melnyk ist ein vernünftiger Mann. Ihm geht es um europäische Hilfe, nicht um Terror. Er ist Politiker und bereit, langfristig mit uns zusammenzuarbeiten. Das lässt uns mehr Möglichkeiten.« – »Vielleicht, aber die Straße hört nicht auf ihn.« – »Tollwütige Tiere! Wenn die nicht von selbst zur Vernunft kommen, werden wir sie bändigen.« Wir hoben die Gläser. Der Wein war gut, ein bisschen herb, aber mit viel Körper. »Wo kommt der her?«, fragte Weber und klopfte mit dem Fingernagel gegen sein Glas. »Der? Aus den Karpaten, glaube ich«, erwiderte Thomas. »Wissen Sie«, fuhr Oberländer fort, ohne sich vom Thema abbringen zu lassen, »die OUN leistet den Sowjets seit zwei Jahren erfolgreich Widerstand. Es wird nicht so leicht sein, sie auszuschalten. Besser, wir versuchen, sie für unsere Ziele einzuspannen und ihre Energien entsprechend zu kanalisieren.Auf Bandera werden sie wenigstens hören. Er hatte heute einen Termin bei Stezko, und das Gespräch ist sehr gut verlaufen.« – »Wer ist Stezko?«, fragte ich. Thomas antwortete in einem ironischen Ton: »Jaroslaw Stezko ist der neue Ministerpräsident einer angeblich unabhängigen Ukraine, die wir nicht autorisiert haben.« – »Wenn wir unsere Trümpfe richtig ausspielen«, fuhr Oberländer fort, »werden sie ihre Ansprüche rasch zurückschrauben.« Thomas fuhr auf: »Wer? Dieser Bandera? Der ist und bleibt ein Terrorist. Das ist ihm in die Wiege gelegt. Deshalb bewundern ihn übrigens auch all diese Fanatiker.« Er wandte sich an mich: »Weißt du, wo die Abwehr diesen Bandera aufgegabelt hat? Im Kittchen!« – »In Warschau«, präzisierte Oberländer lächelnd. »Da saß er tatsächlich eine Strafe ab, weil er 1934 einen polnischen Minister umgebracht hatte. Aber darin kann ich nichts Schlimmes sehen.« Thomas wandte sich wieder ihm zu: »Ich sage ja nur, dass er völlig unberechenbar ist. Sie werden sehen. Fanatisch, wie er ist, träumt er von einer Groß-Ukraine, die von den Karpaten bis zum Don reicht. Er hält sich für einen zweiten Dmitri Donskoi.

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