Die Wohlgesinnten
Melnyk ist wenigstens Realist. Und auch er genießt eine Menge Unterstützung. Alle bekannten Mitkämpfer berufen sich auf ihn.« – »Ja, aber eben nicht die jungen. Und dann müssen Sie zugeben, dass er sich in der Judenfrage nicht eben durch Eifer auszeichnet.« Thomas zuckte die Achseln: »Dazu brauchen wir ihn nicht. Schließlich ist die OUN in der Vergangenheit nie antisemitisch gewesen. Sie sind erst dank Stalin ein wenig in die Richtung gegangen.« – »Das mag ja stimmen«, warf Weber ruhig ein. »Aber es gibt auch andere Gründe, etwa die enge Verbindung der Juden mit den polnischen Großgrundbesitzern.« Das Essen kam: gebratene Ente, gefüllt mit Äpfeln, dazu Kartoffelpüree und geschmorte Rote Rüben. Thomas tat uns auf. »Ganz vorzüglich«, meinte Weber. »Ja, ausgezeichnet«, pflichtete ihm Oberländer bei. »Eine Spezialität der Gegend?«– »Ja«, bestätigte Thomas zwischen zwei Bissen. »Die Ente wird mit Majoran und Knoblauch zubereitet. Normalerweise wird vorher Schwarzsaures gereicht, eine Suppe aus dem Blut der Ente, aber das ging heute nicht.« – »Entschuldigung«, unterbrach ich ihn. »Aber wie fügt sich Ihr Bataillon Nachtigall in dieses Bild?« Oberländer kaute bedächtig zu Ende und tupfte sich die Lippen ab, bevor er antwortete. »Bei denen liegt die Sache etwas anders. Da herrscht noch der ruthenische Geist, wenn Sie so wollen. Weltanschaulich – und sogar personell, soweit es die ältesten unter ihnen betrifft – sind sie aus einem nationalen Verband innerhalb der alten kaiserlich russischen Armee hervorgegangen, den Ukrainski sitschowi strilzi , übersetzt etwa: ›Ukrainische Füsiliere von der Insel Sitsch‹, eine Anspielung auf die Kosakenvergangenheit. Nach dem Krieg sind sie hiergeblieben. Viele von ihnen haben unter Petljura gegen die Roten gekämpft, 1918 auch ein bisschen gegen uns. Die OUN mag sie nicht besonders. In gewisser Weise streben sie eher Autonomie als Unabhängigkeit an.« – »Wie die Bulbowizi übrigens«, fügte Weber hinzu. Er blickte mich an: »Haben die sich in Luzk noch nicht sehen lassen?« – »Meines Wissens nicht. Sind das auch Ukrainer?« – »Wolynier«, stellte Oberländer richtig. »Eine Selbstschutzgruppe, die zunächst Widerstand gegen die Polen leistete. Seit 39 kämpfen sie gegen die Sowjets, es könnte also von Vorteil für uns sein, uns mit ihnen zu verständigen. Aber ich glaube, sie halten sich eher in der Nähe von Rowno auf und weiter in den Pripjetsümpfen.« Alle hatten sich wieder dem Essen zugewandt. »Eines verstehe ich allerdings nicht«, Oberländer nahm den Faden wieder auf und richtete seine Gabel gegen uns, »warum haben die Bolschewiken die Polen unterdrückt, die Juden jedoch nicht? Wie Weber gesagt hat, sie stecken doch von jeher unter einer Decke.« – »Ich denke, die Antwort liegt auf der Hand«, sagte Thomas. »In Stalins Machtbereichhaben die Juden sowieso das Sagen. Als die Bolschewiken das Gebiet besetzten, haben sie zwar den Platz der polnischen Pans eingenommen, erhielten aber dasselbe Muster aufrecht, das heißt, um die ukrainischen Kleinbauern auszubeuten, griffen auch sie auf die Juden zurück. Daher der gerechte Volkszorn, den wir heute beobachten konnten.« Weber prustete in sein Glas; Oberländer gluckste. » Der gerechte Volkszorn. Ich bitte Sie, Herr Hauptsturmführer.« Er hatte sich im Stuhl zurückgelehnt und klopfte mit dem Messer auf die Tischkante. »Das ist doch was fürs Publikum. Für unsere Verbündeten, für die Amerikaner vielleicht. Sie aber wissen doch so gut wie ich, wie man diesen gerechten Zorn organisiert.« Thomas lächelte liebenswürdig: »Zumindest hat er den Vorzug, lieber Professor, die Bevölkerung psychologisch einzubeziehen. Hinterher können die Leute nicht anders, als die Einführung unserer Maßnahmen gutzuheißen.« – »Richtig. Das lässt sich nicht leugnen.« Die Kellnerin räumte ab. »Kaffee?«, erkundigte sich Thomas. – »Sehr gern. Aber bitte rasch. Wir haben heute Abend noch Arbeit vor uns.« Thomas bot Zigaretten an, der Kaffee wurde gebracht. »Wie dem auch sei«, meinte Oberländer, während er sich über das Feuerzeug beugte, das Thomas ihm hinhielt, »ich bin sehr gespannt, was uns erwartet, wenn wir den Sbrutsch überqueren.« – »Warum denn das?«, fragte Thomas und gab Weber Feuer. »Haben Sie mein Buch gelesen? Zur Überbevölkerung der ländlichen Gebiete in Polen?« – »Leider nicht. Bedaure.« Oberländer wandte sich an mich: »Aber Sie
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