Die Wohlgesinnten
ich meinen Bericht. Meine Schlussfolgerungen waren pessimistisch, aber schlüssig: Die französische Rechte war entschieden gegen den Krieg, hatte aber nur geringes politisches Gewicht. Die Regierung, beeinflusst von den Juden und den britischen Plutokraten, war davon überzeugt, dass die Expansion Deutschlands – und sei es nurin den Grenzen seines natürlichen Großraums – eine Bedrohung der vitalen Interessen Frankreichs darstelle; sie würde in den Krieg eintreten, nicht wegen Polen, sondern wegen der Garantien, die sie Polen gegeben hatte. Ich übermittelte Heydrich den Bericht; auf sein Verlangen hin ließ ich Werner Best einen Durchschlag zukommen. »Sie haben sicherlich Recht«, sagte dieser. »Aber es ist nicht das, was man hören möchte.« Mit Thomas hatte ich meinen Bericht nicht durchgesprochen; als ich ihm den Inhalt kurz schilderte, verzog er widerwillig das Gesicht. »Du kapierst wohl überhaupt nichts. Man könnte meinen, du kämst aus der finstersten Provinz.« Er hatte genau das Gegenteil geschrieben: dass die französischen Industriellen wegen ihrer Exporte gegen den Krieg waren – und die Streitkräfte nicht minder – und dass die französische Regierung, vor vollendete Tatsachen gestellt, einmal mehr klein beigeben würde. »Aber du weißt doch genau, dass es ganz anders kommen wird«, wandte ich ein. »Wen schert es, was kommt? Was geht das dich und mich an? Der Reichsführer will nur eins: den Führer beruhigen, damit der sich ungestört mit Polen befassen kann. Um alles andere kümmern wir uns später.« Er schüttelte den Kopf: »Der Reichsführer wird deinen Bericht nicht einmal zur Kenntnis nehmen.«
Natürlich hatte er Recht. Heydrich reagierte nicht auf meine Vorlage. Als die Wehrmacht einen Monat später in Polen einmarschierte und Großbritannien und Frankreich uns den Krieg erklärten, wurde Thomas zu den neuen Einsatzgruppen von Heydrich versetzt, während man mich in Berlin verkümmern ließ. Ich begann bald zu verstehen, dass ich mich in den komplizierten nationalsozialistischen Zirkusspielen hoffnungslos verheddert, die vieldeutigen Zeichen von oben falsch interpretiert und den Willen des Führers nicht richtig gedeutet hatte. Meine Analysen waren zutreffend, die von Thomas falsch; er war mit einem beneidenswertenPosten mit Aufstiegschancen belohnt worden, ich auf ein Abstellgleis geschoben: Das gab zu denken. Anhand sicherer Indizien merkte ich in den folgenden Monaten, dass der Einfluss Bests im RSHA, das aus der halbamtlichen Fusion von Sipo und SD neu gebildet worden war, im Schwinden war, obwohl man ihn an die Spitze zweier Behörden berufen hatte, wohingegen Schellenbergs Stern von Tag zu Tag stieg. Nun hatte Thomas wie durch Zufall zu Beginn des Jahres begonnen, mit Schellenberg zu verkehren; mein Freund hatte eine unfehlbare Begabung, nicht nur zur rechten Zeit, sondern schon etwas früher am rechten Ort zu sein; so hatte es jedes Mal den Anschein, er wäre schon immer dort gewesen und der bürokratische Machtwechsel hätte ihn lediglich eingeholt. Mit etwas mehr Aufmerksamkeit hätte ich das früher erkennen können. Jetzt würde mein Name, so befürchtete ich, mit dem Bests verknüpft bleiben und Bezeichnungen wie Bürokrat , engstirniger Jurist , nicht aktiv genug, nicht hart genug an mir hängen bleiben. Ich könnte weiter juristische Berichte verfassen, auch dafür würden Leute gebraucht, aber das wäre alles. Tatsächlich schied Werner Best im Juni des folgenden Jahres aus dem RSHA aus, an dessen Gründung er doch wie kaum ein anderer mitgewirkt hatte. Damals bewarb ich mich um einen Posten in Frankreich, erhielt aber den Bescheid, man habe im Justizministerium bessere Verwendung für mich. Best war ein schlauer Fuchs; er hatte überall Freunde und Gönner; seit einigen Jahren schon befasste er sich in seinen Veröffentlichungen weniger mit Straf- und Verfassungsrecht als mit Völkerrecht und der Theorie des Großraums , die er zusammen mit meinem ehemaligen Lehrer Reinhard Höhn und einigen anderen Intellektuellen in Abgrenzung zu Carl Schmitt entwickelte. Durch geschicktes Ausspielen seiner Karten ergatterte er einen hohen Posten in der Militärverwaltung Frankreichs. Mich dagegen ließ man noch nicht einmal publizieren.
Als Thomas auf Urlaub kam, bestätigte er meine Einschätzung: »Ich habe dir gesagt, dass es eine Dummheit war. Wer zählt, ist heute in Polen.« Im Moment könne er nicht viel für mich tun, fügte er hinzu. Schellenberg stehe hoch im
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