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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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in allen deutschen Lebensbereichen tätig waren – in Industrie, Landwirtschaft, Bürokratie, Universität. Als ich 1934 nach Kiel kam, waren meine Mittel begrenzt, und auf den Rat Dr. Mandelbrods, eines ehemaligen Vorgesetzten meines Vaters, hatte ich mich bei der SS beworben, wodurch mir die Studiengebühren erspart blieben. Dank seiner Unterstützung wurde ich rasch aufgenommen. Zwei Jahre später hatte ich eine außerordentliche Vorlesung Otto Ohlendorfs über Abweichungen vom rechten Weg des Nationalsozialismus gehört; hinterher wurde ich ihm von Dr. Jessen, meinem Wirtschaftsprofessor, vorgestellt, bei dem einige Jahre zuvor auch Ohlendorf studiert hatte. Wie sich herausstellte, hatte ihm Mandelbrod, zu dem er in Beziehung stand, bereits von mir erzählt. Ziemlich unverblümt legte er mir den Sicherheitsdienst ans Herz und warb mich auf der Stelle als V-Mann an. Die Arbeit war einfach: Ich musste Berichte anfertigen über das, was man sich erzählte, über die Gerüchte, über die Witze und die Reaktionen auf die Ausbreitung des Nationalsozialismus. In Berlin, so hatte mir Ohlendorf erklärt, würden die Berichte Tausender V-Leute zusammengetragen und in geraffter Form vom SD an verschiedene Parteiinstanzen verteilt, damit diese sich ein Bild von der Stimmung im Volk machen und ihre Politik entsprechend ausrichten könnten. Das ersetzte in gewisser Weise die Wahlen. Ohlendorf gehörte zu den Vätern des Systems, auf das er sichtlich stolz war. Anfangs fand ich das faszinierend, Ohlendorfs Vortrag hatte mich tief beeindruckt, und ich war glücklich, so zum Aufbau des Nationalsozialismus beitragen zu können. Doch in Berlin wurde ich von meinem Lehrer Höhn auf behutsame Art ein wenig ernüchtert. Beim SD war er der Fürsprecher von Ohlendorf und vielen anderen gewesen. Doch inzwischen hatte er sich mit dem Reichsführer überworfen und den Dienst quittiert. Raschgelang es ihm, mich davon zu überzeugen, dass der Wunsch, für einen Nachrichten- oder Spionagedienst zu arbeiten, romantische Schwärmerei sei und dass ich meinem Volk weit nützlichere Dienste erweisen könne. Zwar blieb ich mit Ohlendorf in Verbindung, doch er redete nicht mehr oft mit mir über den SD; wie ich später erfuhr, hatte auch er seine Schwierigkeiten mit dem Reichsführer. Ich zahlte zwar weiterhin meine Beiträge als Angehöriger der SS und nahm an den Übungen teil, schickte aber keine Berichte mehr und hatte die ganze Angelegenheit bald völlig vergessen. Stattdessen konzentrierte ich mich vorrangig auf meine – ziemlich spröde – Dissertation; außerdem hatte mich die Liebe zu Kant gepackt, und gewissenhaft büffelte ich Hegel und die idealistische Philosophie; von Höhn ermutigt, beabsichtigte ich, mich um einen Posten in einem Ministerium zu bewerben. Aber ich muss zugeben, dass ich mich auch aus anderen, privaten Gründen zurückhielt. In meinem Plutarch hatte ich eines Abends die folgenden Sätze über Alkibiades unterstrichen: So hätte man dem äußeren Anschein nach sagen können: »Nicht des Achilleus Sohn, er selber bist du ja«, wie ihn Lykurgos erzogen hat. Aber auf sein wahres Tun und Lassen hätte besser das Wort gepaßt: »Es ist die Frau wie einst.« Das ringt euch vielleicht nur ein Lächeln ab, oder ihr verzieht das Gesicht vor Abscheu; heute ist mir das egal. In Berlin gab es damals in dieser Hinsicht, trotz Gestapo, noch alles, was das Herz begehrte. Einschlägige Kneipen wie Kleist-Kasino oder Silhouette blieben geöffnet, und Razzien waren selten, offenbar weil jemand die Hand darüberhielt. Ansonsten gab es auch bestimmte Gegenden im Tiergarten, in der Nähe des Neuen Sees vor dem Zoologischen Garten, wohin sich nachts nur selten ein Schupo verirrte; dort warteten hinter Bäumen Strichjungen oder junge, kräftige Arbeiter aus dem roten Wedding. An der Universität hatte ich ein oder zwei Beziehungen gehabt, notgedrungen diskret undohnehin kurz; doch ich zog die proletarischen Liebhaber vor, ich unterhielt mich nicht gern.
    Trotz aller Diskretion bekam ich schließlich Ärger. Ich hätte besser aufpassen sollen; schließlich gab es genug Fingerzeige. Höhn hatte mich – in aller Unschuld – gebeten, das Buch Homosexualität und Strafrecht des Rechtsanwalts Rudolf Klare zu rezensieren. Dieser bemerkenswert gut unterrichtete Mann hatte eine überraschend exakte Typologie homosexueller Praktiken aufgestellt und eine entsprechende Klassifikation der Delikte vorgelegt, ausgehend von dem bloßen Anschauen des

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