Die Wohlgesinnten
zerstört worden seien. »Unsere haben eineneue Taktik angewandt, Wilde Sau haben sie das im Radio genannt, aber nicht genauer erklärt, worum es sich handelt, Sturmbannführer. Scheint zu klappen, offenbar haben wir mehr als sechzig von ihren Maschinen abgeschossen, diese Dreckskerle. Armer Herr Jeschonnek, er hätte etwas warten sollen.« Generaloberst Jeschonnek, Generalstabschef der Luftwaffe, hatte gerade Selbstmord begangen, weil es trotz mehrfacher Versuche nicht gelungen war, die Bombenangriffe der Briten und Amerikaner zu unterbinden. Tatsächlich musste Piontek, bevor wir auch nur die Spree überquert hatten, einen Umweg machen, um eine Straße zu vermeiden, die von dem Schutt und den Trümmerresten eines Hauses versperrt wurde; ein Bomber, eine Lancaster, glaube ich, war direkt hineingestürzt; sein Heck ragte noch aus den Trümmern empor, trostlos, wie der Bug eines Schiffes im Moment seines Untergangs. Eine dicke schwarze Rauchwolke verbarg die Sonne. Ich ließ mich von Piontek in den Süden der Stadt fahren: Je weiter wir vorankamen, desto zahlreicher die noch brennenden Gebäude, die von Trümmern verstopften Straßen. Menschen versuchten, ihre Möbel aus aufgeschlitzten Häusern zu schleppen, wollten sie mitten auf den Straßen stapeln, die von den Feuerspritzen unter Wasser gesetzt worden waren; in Feldküchen wurde Suppe an Schlangen erschöpfter, schweißbedeckter, unter Schock stehender Überlebender ausgegeben; neben den Feuerwehrwagen zeichneten sich auf dem Bürgersteig umrisshaft Gestalten ab, manchmal schaute ein nackter, manchmal ein noch mit einem lächerlichen Schuh bekleideter Fuß unter einem befleckten Laken hervor. Straßenbahnen versperrten den Weg, auf der Seite liegend, von den Druckwellen der Explosionen umgestürzt oder vom Feuer geschwärzt; Oberleitungen hingen auf das Pflaster herab, Bäume lagen zersplittert am Boden oder ragten noch nackt, all ihrer Blätter beraubt, empor. Die am stärksten betroffenen Viertel waren unpassierbar. Ich ließ Piontekwenden und zum SS-Haus fahren. Das Gebäude hatte keinen Treffer abbekommen, aber Einschläge in der Nähe hatten die Fensterscheiben bersten lassen, und das zerbrochene Glas auf der Vortreppe knirschte unter meinen Schritten. Drinnen begegnete ich Brandt im Flur, er war schrecklich aufgeregt, auf seinem Gesicht lag eine Freude, die unter den gegebenen Umständen ziemlich überraschend wirkte. »Was ist los?« Er blieb einen Augenblick stehen: »Ach, Sie wissen es noch nicht? Eine wunderbare Neuigkeit! Der Reichsführer ist zum Reichsminister des Innern ernannt worden.« Das waren also die Veränderungen, von denen Thomas gesprochen hatte, dachte ich, während Brandt im Fahrstuhl verschwand. Ich nahm die Treppe: Fräulein Praxa war an ihrem Platz, geschminkt und frisch wie eine Rose. »Gut geschlafen?« – »Ach, wissen Sie, Herr Sturmbannführer, ich wohne in Weißensee, ich habe nichts gehört.« – »Wie schön für Sie.« Das Fenster meines Dienstzimmers war heil geblieben: Ich hatte mir angewöhnt, es abends offen zu lassen. Ich versuchte die Tragweite der Neuigkeit abzuschätzen, die ich gerade von Brandt erfahren hatte, aber mir fehlten die Einzelheiten, um sie richtig analysieren zu können. Zunächst einmal schien mir, dass sich für uns nicht viel ändern würde: Obwohl Himmler als Chef der deutschen Polizei dem Innenminister nominell unterstellt war, handelte er vollkommen autonom, zumindest seit 1936; weder der scheidende Minister Frick noch sein Staatssekretär Stuckart hatten jemals den geringsten Einfluss auf das RSHA oder selbst das Hauptamt Orpo gehabt. Eine gewisse Kontrolle hatte das Ministerium nur über die Zivilverwaltung, die Beamtenschaft, behalten können; das fiel jetzt auch in die Zuständigkeit des Reichsführers, ich konnte aber nicht glauben, dass das von sonderlichem Gewicht war. Offensichtlich würde der Ministerrang die Position des Reichsführers gegenüber seinen Rivalen nur stärken: Doch ich wusste nicht genug über die Revierkämpfe an derSpitze des Staates, um diese Tatsache richtig einordnen zu können.
Ich hatte gedacht, diese Ernennung würde meinen mündlichen Bericht auf unbestimmte Zeit verschieben: Aber da kannte ich den Reichsführer schlecht. Zwei Tage später wurde ich in sein Büro bestellt. In der Nacht zuvor waren die Briten wiedergekommen, nicht ganz so massiv wie das letzte Mal, aber ich hatte trotzdem schlecht geschlafen. Ich rieb mir das Gesicht mit kaltem Wasser ab, um eine
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