Die Wohlgesinnten
Dienst tat. Rasch hatte ich mich mit ihm auf eine vernünftige Miete verständigt, und an einem Nachmittag schaffte ich mit Pionteks Hilfe und unter Frau Gutknechts Jammern und Flehen meine wenigen Habseligkeiten dorthin. Die Wohnung war nicht sehr geräumig: Zwei quadratische Zimmer, durch eine Doppeltür abgeteilt, eine kleine Küche und ein Badezimmer; aber es gab einen Balkon, und da das Wohnzimmer ein Eckzimmer war, waren auf beiden Seiten Fenster; der Balkon ging auf einen kleinen Park, ich konnte die Kinder spielen sehen, außerdem war es ruhig, ich wurde nicht vom Verkehrslärm belästigt; von meinen Fenstern aus hatte ich einen schönen Blick auf eine Landschaft von Dächern, ein beruhigendes Zusammenspiel verschachtelter Formen, das sich mit dem Wetter und dem Licht ständig veränderte. An schönen Tagen war die Wohnung von morgens bis abends lichtdurchflutet: Sonntags sah ich die Sonne vom Schlafzimmer aus aufgehen und vom Wohnzimmer aus untergehen. Um die Wohnung noch heller zu machen, ließ ich mit Erlaubnis des Eigentümers die verblichenen Tapeten abreißen und die Wände weiß streichen; in Berlin war das eher ungewöhnlich, doch ich hatte solche Wohnungen in Paris gesehen, und es gefiel mir, mit dem Parkett war sie fast asketisch, was meiner Geistesverfassung entsprach: Friedlich auf meinem Sofa liegend, rauchte ich undfragte mich, warum ich nicht schon früher umgezogen war. Morgens stand ich früh auf, in dieser Jahreszeit noch vor Sonnenaufgang, aß ein paar Schnitten und trank echten Bohnenkaffee; Thomas ließ sich von einem Bekannten aus Holland welchen schicken und verkaufte mir einen Teil davon. Zur Arbeit fuhr ich mit der Straßenbahn. Es gefiel mir, die Straßen an mir vorbeiziehen zu sehen, die Gesichter meiner Nachbarn im Tageslicht zu betrachten, traurige, verschlossene, gleichgültige und müde Gesichter, manchmal aber auch erstaunlich glückliche, und wenn ihr mal darauf achtet, wisst ihr, wie selten man auf der Straße oder in der Straßenbahn ein glückliches Gesicht sieht, doch wenn ich eines sah, war ich ebenfalls glücklich, ich hatte das Gefühl, mich wieder in die Gemeinschaft der Menschen einzugliedern, dieser Menschen, für die ich arbeitete, von denen ich aber so weit entfernt gewesen war. Mehrere Tage hintereinander bemerkte ich eine schöne blonde Frau, die mit derselben Linie fuhr. Sie hatte ein ruhiges, ernstes Gesicht, in dem mir zuerst der Mund auffiel, vor allem die Oberlippe, zwei muskulöse aggressive Flügel. Meinen Blick spürend, hatte sie mich ebenfalls angesehen: Unter hoch und fein geschwungenen Augenbrauen hatte sie dunkle, fast schwarze Augen, asymmetrisch und assyrisch (wobei dieser Vergleich mir sicherlich nur wegen der Assonanz in den Sinn gekommen ist). Sie stand, die Hand in einer Halteschlaufe, und musterte mich ruhig und ernst. Ich hatte den Eindruck, sie schon irgendwo gesehen zu haben, zumindest ihren Blick, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo. Am nächsten Tag sprach sie mich an. »Guten Tag«, sagte sie, »Sie erinnern sich nicht an mich, aber wir haben uns schon gesehen. In der Schwimmhalle.« Es war die junge Frau, die sich auf den Beckenrand gestützt hatte. Ich sah sie nicht jeden Tag; doch wenn ich sie entdeckte, grüßte ich freundlich, und sie lächelte still. Abends war ich wieder häufig aus: Ich ging mit Hohenegg essen, machte ihn mitThomas bekannt, sah ehemalige Kommilitonen wieder, ließ mich zu Soupers und kleinen Festen einladen, bei denen ich trank und mich vergnügt unterhielt, ohne Schrecken, ohne Angst. Es war das normale Leben, das alltägliche Leben, und das zu leben lohnte sich schließlich auch.
Kurze Zeit nach meinem Abendessen mit Ohlendorf hatte ich eine Einladung Dr. Mandelbrods zu einem Wochenende auf einem Landsitz im Norden Brandenburgs erhalten, der einem der Direktoren der IG Farben gehörte. In dem Schreiben war von Jagd und informellem Abendessen die Rede. Geflügel zu massakrieren verlockte mich wenig, aber ich war ja nicht gezwungen zu schießen, ich konnte einfach im Wald spazieren gehen. Es war regnerisch: Berlin versank im Herbst, die schönen Oktobertage waren vorbei, die Bäume wurden endgültig kahl; trotzdem, hin und wieder klarte es auf, man konnte ausgehen und die bereits kühle Luft genießen. Am 18. November, um die Zeit des Abendessens, heulten die Sirenen auf, und die Flak begann zu feuern – zum ersten Mal seit Ende August. Ich war mit Freunden im Restaurant, unter ihnen auch Thomas, wir kamen
Weitere Kostenlose Bücher