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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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zusammenzustellen. Die Arbeit war recht einfach: Jeder von uns nahm sich einen Sektor vor – Opfer, Wohngebäude, Regierungsgebäude, Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen, Industrie – und setzte sich mit den zuständigen Behörden inVerbindung, um die entsprechenden Daten in Erfahrung zu bringen. Mir wurde ein Büro mit Telefon und Fernsprechverzeichnis zugewiesen; einige Leitungen waren noch intakt, dort setzte ich Fräulein Praxa hin – sie hatte irgendwo ein neues Kleid aufgetrieben –, mit dem Auftrag, die Krankenhäuser anzurufen. Um Isenbeck loszuwerden, beschloss ich, ihn mit den geretteten Akten zu seinem Chef Weinrowski nach Oranienburg zu schicken, und gab Piontek den Befehl, ihn hinzufahren. Walser war nicht wiedergekommen. Wenn Fräulein Praxa zu einem Krankenhaus durchgekommen war, fragte ich nach der Zahl der Verletzten, die dort eingeliefert und unter Umständen schon gestorben waren; als sie eine Liste von drei oder vier telefonisch nicht erreichbaren Hospitälern zusammenhatte, schickte ich einen Fahrer und eine Ordonnanz los, die die entsprechenden Zahlen erfragen sollten. Asbach kam mittags, er sah angegriffen aus und war sichtlich um Haltung bemüht. Ich ging mit ihm ins Kasino und ließ ihm belegte Brote und Tee bringen. Langsam, zwischen zwei Bissen, erzählte er mir, was geschehen war: Am ersten Abend hatte das Haus, in dem seine Frau Zuflucht bei ihrer Mutter gesucht hatte, einen Volltreffer erhalten und war über dem Luftschutzkeller zusammengestürzt, der nur teilweise gehalten hatte. Asbachs Schwiegermutter war offenbar auf der Stelle tot gewesen oder zumindest ziemlich rasch gestorben; seine Frau war lebendig begraben worden; man hatte sie erst am nächsten Morgen befreien können, von einem gebrochenen Arm abgesehen, war sie unverletzt, aber vollkommen verwirrt; sie hatte während der Nacht eine Fehlgeburt gehabt und war noch nicht wieder bei Sinnen, fortwährend wechselte sie zwischen Kleinkindgeplapper und hysterischen Tränenausbrüchen. »Ich muss ihre Mutter ohne sie begraben«, sagte Asbach traurig, während er seinen Tee in kleinen Schlucken trank. »Ich wollte eigentlich noch warten, bis sie sich erholt hat, aber die Leichenhallen sind zumBersten voll, und die Gesundheitsbehörden haben Angst vor Epidemien. Offenbar kommen alle Toten, auf die nicht binnen vierundzwanzig Stunden Anspruch erhoben wird, in Massengräber. Es ist schrecklich.« Ich versuchte ihn zu trösten, so gut es ging, musste aber einsehen, dass ich dafür kein großes Talent habe: Vergebens beschwor ich sein künftiges Eheglück, es klang wohl ziemlich hohl. Trotzdem schien es ihn zu trösten. Ich schickte ihn mit einem Fahrer der Reichsführung nach Hause und sicherte ihm einen Lieferwagen für das Begräbnis am nächsten Tag zu.
    Alles deutete darauf hin, dass sich der Dienstagsangriff, auch wenn nur halb so viele Maschinen wie am Montag beteiligt gewesen waren, als der noch schlimmere erweisen sollte. Die Arbeiterviertel, vor allem der Wedding, waren schwer getroffen worden. Am späten Nachmittag hatten wir alle Informationen zusammen, die wir für einen kurzen Bericht brauchten: Es gab an die 2000 Tote, dazu mehrere hundert Menschen, die unter den Trümmern vermisst wurden; 3000 Gebäude waren verbrannt oder zerstört; 175 000 Menschen ausgebombt, von denen offenbar 100 000 die Stadt bereits verlassen konnten, um sich eine Bleibe entweder in den Dörfern des Umlands oder in anderen deutschen Städten zu suchen. Gegen sechs wurden alle nach Hause geschickt, die nicht mit wichtigen Arbeiten beschäftigt waren; ich blieb länger und war noch mit einem Fahrer der Fahrbereitschaft unterwegs, als die Sirenen wieder aufzuheulen begannen. Ich beschloss, nicht bis zum Eden weiterzufahren: Die LSR-Bar flößte mir wenig Vertrauen ein, außerdem scheute ich eine Wiederholung des Saufgelages vom Vorabend. Ich ließ den Fahrer um den Zoo herum zum großen Zoo-Bunker fahren. Eine Menge drängte sich vor den wenigen Türen, die auch noch zu schmal waren; vor der Betonfassade parkten Fahrzeuge; davor standen auf einer reservierten Fläche, fächerförmig angeordnet, Dutzende Kinderwagen. Im Innerenbrüllten Soldaten und Polizisten Befehle, um die Leute nach oben zu treiben; auf jedem Stockwerk bildete sich eine Ansammlung, weil niemand höherwollte, Frauen schrien, ihre Kinder liefen zwischen den Menschen umher und spielten Krieg. Wir wurden in den zweiten Stock geschickt, doch die Bänke, aufgereiht wie in der

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