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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Kirche, waren bereits brechend voll, daher lehnte ich mich an die Betonwand. Mein Fahrer war in der Menge verschwunden. Wenig später eröffneten die Acht-acht auf dem Dach das Feuer: Das riesige Gebäude begann in seinen Grundfesten zu erbeben, es schaukelte wie ein Schiff auf hoher See. Die Menschen, gegen ihre Nachbarn geschleudert, schrien oder stöhnten. Die Lampen stellten sich auf Notbeleuchtung um, gingen aber nicht aus. In den Ecken und im Dunkel der Wendeltreppen, die die Stockwerke miteinander verbanden, drängten sich jugendliche Paare eng umschlungen aneinander; einige schienen sich sogar zu lieben, durch die Detonationen hindurch hörte man ein ganz anderes Stöhnen als das der verängstigten Hausfrauen, ältere Leute protestierten entrüstet, die Schupos brüllten und zwangen die Menschen, sitzen zu bleiben. Ich wollte rauchen, aber es war verboten. Ich betrachtete die Frau, die auf der Bank vor mir saß: Sie hielt den Kopf gesenkt, ich sah nur ihr blondes Haar, ungewöhnlich dicht und schulterlang. Eine Bombe krepierte ganz in der Nähe, brachte den Bunker zum Zittern und ließ eine Wolke Betonstaub von der Decke regnen. Die junge Frau hob den Kopf, ich erkannte sie sofort: Es war die, der ich morgens manchmal in der Straßenbahn begegnet war. Auch sie erkannte mich, und ein zurückhaltendes Lächeln hellte ihr Gesicht auf, während sie mir ihre weiße Hand reichte: »Guten Abend! Ich habe mir Ihretwegen Sorgen gemacht.« – »Warum das?« Bei dem Flakfeuer und den Explosionen konnte ich sie kaum verstehen, ich hockte mich hin und beugte mich zu ihr. »Sie waren am Sonntag nicht in der Schwimmhalle«, sagte sie mir ins Ohr. »Ich hatte Angst, dassIhnen etwas passiert sein könnte.« Sonntag, das war schon in einem anderen Leben gewesen, schien mir, und doch war es erst drei Tage her. »Ich war auf dem Land. Steht die Schwimmhalle noch?« Sie lächelte wieder: »Ich weiß nicht.« Eine weitere gewaltige Detonation erschütterte den Betonbau; sie ergriff meine Hand und drückte sie krampfhaft; hinterher ließ sie sie los und entschuldigte sich. Trotz des gelblichen Lichts und des Staubs hatte ich den Eindruck, dass sie leicht errötet war. »Entschuldigen Sie«, sagte ich, »aber wie heißen Sie?« – »Helene«, erwiderte sie. »Helene Anders.« Ich stellte mich meinerseits vor. Sie arbeitete in der Presseabteilung des Auswärtigen Amts; ihr Büro war, wie der größte Teil des Ministeriums, am Montagabend zerstört worden, doch das Haus ihrer Eltern in Alt-Moabit, wo sie wohnte, stand noch. »Jedenfalls vor diesem Angriff. Und Sie?« Ich lachte: »Ich hatte ein paar Dienstzimmer im Reichsministerium des Innern, aber die sind ausgebrannt. Im Augenblick bin ich im SS-Haus untergebracht.« So plauderten wir bis zum Ende des Fliegeralarms. Sie war zu Fuß nach Charlottenburg gekommen, um eine Freundin zu trösten, die ausgebombt war; die Sirenen hatten sie auf dem Rückweg überrascht, und sie hatte sich hierhin, in den Bunker, geflüchtet. »Ich dachte nicht, dass sie die dritte Nacht hintereinander kommen würden«, sagte sie leise. »Um ehrlich zu sein, ich auch nicht«, erwiderte ich, »aber ich freue mich, dass wir dadurch Gelegenheit hatten, uns wiederzusehen.« Ich sagte das aus Höflichkeit; merkte aber, dass ich es nicht nur höflich meinte. Dieses Mal errötete sie erkennbar; trotzdem antwortete sie frei und offen: »Ich auch. Unsere Straßenbahn dürfte einige Zeit außer Betrieb sein.« Das Licht ging wieder an, sie stand auf und klopfte sich den Mantel ab. »Wenn es Ihnen recht ist«, sagte ich, »bringe ich Sie nach Hause. Falls ich noch einen Wagen habe«, fügte ich lachend hinzu. »Lehnen Sie nicht ab. Es ist nicht sehr weit.«
    Ich traf meinen Fahrer vor seinem Fahrzeug an, er sah sehr verärgert aus: Der Wagen hatte keine Scheiben mehr, und eine Seite war vom Nachbarfahrzeug, das vom Luftdruck einer Explosion dagegengeschleudert worden war, eingedrückt. Von den Kinderwagen waren nur noch Reste übrig, die über den ganzen Platz verstreut waren. Der Zoo brannte schon wieder, von dort kamen grauenhafte Laute – das Brüllen, Blöken und Trompeten sterbender Tiere. »Die armen Viecher«, murmelte Helene, »die wissen überhaupt nicht, wie ihnen geschieht.« Der Fahrer dachte nur an seinen Wagen. Ich holte einige Schupos heran, damit sie uns halfen, ihn wieder flottzumachen. Die Beifahrertür klemmte; ich ließ Helene hinten einsteigen und kletterte über den Fahrersitz. Die Fahrt

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