Die Wohlgesinnten
da wir um Mitternacht aufbrechen wollten; ich hatte aber Mühe einzuschlafen. Ich dachte an Helene: Ich hatte mich zwei Tage zuvor von ihr verabschiedet, wobei ich ihr angedeutet hatte, dass ich nicht wüsste, wann ich nach Berlin zurückkehren würde; ich war ziemlich kurz angebunden gewesen, hatte keine Erklärungen abgegeben und keine Versprechungen gemacht; sie hatte es still und ernst hingenommen, ohne erkennbare Unruhe, und doch war, denke ich, uns beiden klar, dass zwischen uns eine Bindung entstanden war, zart vielleicht, aber fest, eine Bindung, die sich nicht von allein auflösen würde; durchaus schon eine Beziehung.
Ich musste doch ein wenig eingenickt sein: Gegen Mitternachtschüttelte Piontek mich wach. Ich hatte mich angekleidet schlafen gelegt, meine Sachen waren gepackt; ich ging hinaus, etwas Luft schnappen, während die Fahrzeuge überprüft wurden; ich aß ein belegtes Brot und trank den Kaffee, den Fischer, eine Ordonnanz, mir gekocht hatte. Das Winterende bescherte uns noch einmal schneidende Kälte, hochgestimmt atmete ich die reine Bergluft ein. Etwas weiter hörte ich Motorengeräusch: das Vorkommando, unter einem der Offiziere Eichmanns, machte sich auf den Weg. Ich hatte beschlossen, mich der Kolonne des Sondereinsatzkommandos anzuschließen, das neben Eichmann und seinen Offizieren mehr als hundertfünfzig Mann umfasste, meistens Orpos und Vertreter des SD und der Sipo, außerdem einige Waffen-SS-Männer. Der Konvoi von Geschke und Achamer-Pifrader sollte den Abschluss bilden. Als unsere beiden Fahrzeuge fertig waren, schickte ich sie zum Sammelpunkt und machte mich zu Fuß auf die Suche nach Eichmann. Der hatte sich eine Schutzbrille über seine Schirmmütze geschoben und eine Steyr-MP unter den Arm geklemmt: Mit seiner Reithose gab ihm das einen fast lächerlichen Anstrich, als hätte er sich verkleidet. »Obersturmbannführer«, schrie er, als er mich sah. »Sind Ihre Männer marschbereit?« Ich nickte und ging zu ihm. Am Sammelpunkt herrschte kurz vor Abmarsch das übliche Durcheinander, die Rufe und Kommandos, bis die Masse der Fahrzeuge sich geordnet in Bewegung setzen konnte. Schließlich erschien Eichmann, von mehreren seiner Offiziere umgeben, unter ihnen Regierungsrat Hunsche, den ich aus Berlin kannte; nach ein paar widersprüchlichen Kommandos stieg Eichmann in seinen Schwimmwagen, einen amphibischen Geländewagen, der von einem Waffen-SS-Mann gefahren wurde: Amüsiert fragte ich mich, ob Eichmann befürchtete, dass die Brücken mit Sprengladungen versehen sein könnten, und ob er vorhätte, die Donau mit seiner Steyr und seinem Fahrer in seinem motorisierten Kahn zuüberqueren, um die magyarischen Horden ganz allein in die Flucht zu schlagen. Piontek dagegen, am Steuer meines Wagens, war die Nüchternheit und Ernsthaftigkeit in Person. Im grellen Licht der Lagerscheinwerfer, unter dem Donnern der Motoren und Wolken von Staub setzte sich die Kolonne endlich in Bewegung. Ich hatte Elias und Fischer mit den Waffen, die uns übergeben worden waren, auf die Rücksitze verfrachtet; ich stieg vorn neben Piontek ein, während er den Motor anließ. Der Himmel war sternenklar, aber mondlos; als wir die Serpentinenstraße zur Donau hinabfuhren, sah ich unter mir deutlich das schimmernde Band des Flusses. Die Kolonne setzte auf das rechte Ufer über und wandte sich in Richtung Wien. Wir fuhren hintereinander, mit verdunkelten Scheinwerfern wegen der feindlichen Jäger. Es dauerte nicht lange, bis ich einschlief. Von Zeit zu Zeit ließ mich ein Fliegeralarm aufschrecken, der uns zwang, anzuhalten und die Scheinwerfer zu löschen, aber niemand verließ sein Fahrzeug, wir warteten im Dunkeln. Es gab keinen Angriff. In meinem mehrfach unterbrochenen Halbschlaf suchten mich seltsame Träume heim, lebhaft und flüchtig, die wie Seifenblasen zerplatzten, wenn mich ein Schlagloch oder eine Sirene weckte. Gegen drei Uhr, als wir Wien südlich umfuhren, rüttelte ich mich vollständig wach und trank Kaffee aus einer von Fischer gefüllten Thermosflasche. Der Mond war aufgegangen, eine schmale Sichel, die den breiten Strom der Donau in silbernen Glanz tauchte. Die Alarme zwangen uns immer wieder zum Halt, eine lange Schlange unterschiedlicher Fahrzeuge, die jetzt im Mondlicht auszumachen waren. Im Osten rötete sich der Himmel und ließ die Kämme der Kleinen Karpaten hervortreten. Bei einem dieser erzwungenen Stopps hielten wir über dem Neusiedler See, nur einige Kilometer vor der ungarischen
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