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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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ausgelastet. Ohne diese Juden halten wir nicht mehr länger durch.« Eichmann war näher getreten und hatte meine letzten Worte gehört, während er seinen Kognak trank. Er ergriff das Wort, ohne Müller Gelegenheit zu einer Antwort zu geben: »Glauben Sie wirklich, dass Sieg oder Niederlage von der Arbeit einiger Tausend Juden abhängen? Und wenn es so wäre, würden Sie dann wollen, dass Deutschland seinen Sieg den Juden zu verdanken hätte?« Eichmann hatte getrunken, sein Gesicht war gerötet, seine Augen glänzten; er war stolz, diese Ansichten vor seinem Vorgesetzten äußern zu können. Ich hörte ihm zu, spießte Wurstscheiben auf dem Teller auf, den ich in der Hand hielt, und blieb ruhig, obwohl mir sein dummes Geschwätz auf die Nerven ging. »Ach, wissen Sie, Obersturmbannführer«, erwiderte ich gleichmütig, »1941 hatten wir die modernste Armee der Welt. Heute sind wir fast um ein halbes Jahrhundert zurückgefallen. Alle unsere Transporte an der Front werden mit Pferdefuhrwerken bewerkstelligt. Die Russen rücken mit amerikanischen Studebakern vor. Und in den Vereinigten Staaten sind Millionen Männer und Frauen Tag und Nacht mit der Herstellung dieser Lkws beschäftigt. Und sie bauen auch die Schiffe für deren Transport. Unsere Fachleute versichern, dass sie einen Frachter pro Tag herstellen. Das ist weit mehr, als unsere U-Boote versenken könnten, wenn sie denn überhaupt noch auszulaufen wagten. Wir befinden uns jetzt in einem Abnützungskrieg. Doch bei unseren Feinden gibt es keine Abnützung. Alles, was wir zerstören, wird sofort ersetzt, die hundert Maschinen, die wir in dieser Woche abgeschossen haben, sind schon fast ersetzt. Wohingegen bei uns die materiellen Verluste nicht wettgemacht werden, ausgenommen vielleicht bei den Panzern, und noch nicht einmal dort.« Eichmann plusterte sich auf: »Sie sind reichlich defätistisch heute Abend!«Müller beobachtete uns schweigend, ohne zu lächeln; seine ruhelosen Augen huschten zwischen uns hin und her. »Ich bin kein Defätist«, erwiderte ich, »ich bin Realist. Wir müssen erkennen, wo unsere Interessen liegen.« Doch Eichmann, der schon ein wenig betrunken war, verschmähte jegliche Logik: »Sie argumentieren wie ein Kapitalist, ein Materialist … In diesem Krieg geht es nicht um Interessen. Wenn es nur um Interessen ginge, hätten wir Russland niemals angegriffen.« Ich konnte ihm nicht mehr folgen, er schien den Faden vollkommen verloren zu haben, aber er hörte nicht auf, sondern ging seinen Gedankensprüngen nach. »Wir führen nicht Krieg, damit jeder Deutsche einen Kühlschrank und ein Radio hat. Wir führen Krieg, um Deutschland zu reinigen, um ein Deutschland zu schaffen, in dem es sich zu leben lohnt. Glauben Sie, dass mein Bruder Helmut für einen Kühlschrank gefallen ist? Und Sie, haben Sie in Stalingrad für einen Kühlschrank gekämpft?« Ich zuckte lächelnd die Achseln: In diesem Zustand hatte es keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Müller legte ihm die Hand auf die Schulter: »Mein lieber Eichmann, Sie haben ja Recht.« An mich gewandt, fügte er hinzu: »Sehen Sie, deshalb ist unser guter Eichmann so geeignet für seine Arbeit: Er hat nur Augen für das Wesentliche. Deshalb ist er ein so guter Spezialist. Und deshalb schicke ich ihn nach Ungarn: In der Judenfrage ist er unser Meister .« Angesichts dieser Komplimente wurde Eichmann rot vor Freude; mir kam er in diesem Augenblick eher beschränkt vor. Was aber nichts daran änderte, dass Müller Recht hatte: Er war wirklich sehr tüchtig, schließlich sind die Beschränkten häufig tüchtig. Müller fuhr fort: »Allerdings sollten Sie nicht ausschließlich an die Juden denken, Eichmann. Gewiss, die Juden gehören zu unseren großen Feinden, aber die Judenfrage hat sich in Europa schon fast erledigt. Nach Ungarn bleibt nicht mehr viel. Wir müssen an die Zukunft denken. Und wir haben viele Feinde.« Seine leisegleichmäßige Stimme strömte im wiegenden Rhythmus ihres bäuerlichen Akzents zwischen seinen schmalen nervösen Lippen hervor. »Wir müssen uns überlegen, was wir mit den Polen machen. Die Juden auszumerzen und die Polen übrig zu lassen ist vollkommen sinnlos. Und auch hier in Deutschland. Wir haben bereits angefangen, aber wir dürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Wir brauchen auch eine Endlösung der Sozialfrage . Es gibt noch immer viel zu viele Kriminelle, Asoziale, Vagabunden, Zigeuner, Alkoholiker, Prostituierte, Homosexuelle. Wir müssen an die

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