Die Wohlgesinnten
Tuberkulosekranken denken, die die Gesunden anstecken. An die Herzkranken, die verdorbenes Blut weitergeben und das Gesundheitswesen ein Vermögen kosten: Die sollte man zumindest sterilisieren. Mit alldem müssen wir uns befassen, Gruppe für Gruppe. Unsere guten Deutschen wehren sich dagegen, und sie haben stets gute Gründe. Das ist Stalins Stärke: Er weiß, sich Gehorsam zu verschaffen, und führt konsequent zu Ende, was er sich vorgenommen hat.« Er sah mich an: »Ich kenne die Bolschewisten. Seit den Geiselexekutionen während der Münchner Räterepublik. Danach habe ich sie vierzehn Jahre lang bekämpft, bis zur Machtergreifung, und ich bekämpfe sie noch immer. Aber wissen Sie was? Ich habe Achtung vor ihnen. Das sind Leute, die einen angeborenen Sinn für Organisation haben, für Disziplin und die vor nichts zurückschrecken. Wir könnten von ihnen lernen. Glauben Sie nicht?« Müller wartete die Antwort auf seine Frage nicht ab. Er nahm Eichmann am Arm und zog ihn zu einem niedrigen Tisch, auf den er ein Schachbrett legte. Ich sah ihnen von weitem beim Spiel zu, während ich meinen Teller leerte. Eichmann spielte gut, hatte aber keine Chance gegen Müller: Müller spielt, wie er arbeitet, sagte ich mir, methodisch hartnäckig und mit kalter, überlegter Brutalität. Da sie mehrere Partien spielten, hatte ich Muße, sie zu beobachten. Eichmann versuchte gerissene, sorgsam geplante Kombinationen,doch Müller ging ihm nie in die Falle, seine Verteidigung zeigte genauso wenig Schwäche wie seine systematisch vorbereiteten Angriffe, denen Eichmann nichts entgegenzusetzen hatte. Müller gewann immer.
In der folgenden Woche stellte ich eine kleine Gruppe für den Einsatz in Ungarn zusammen. Dazu gehörten ein Fachmann – Obersturmführer Elias –, einige Schreibkräfte, Ordonnanzen und Kanzlisten und natürlich Piontek. Meine Dienststelle ließ ich mit genauen Anweisungen in Asbachs Obhut. Auf Befehl Brandts fand ich mich am 17. März im KL Mauthausen ein, wo sich unter Oberführer Dr. Achamer-Pifrader, dem ehemaligen BdS von Ostland, eine Sondereinsatzgruppe der Sipo und des SD versammelte. Eichmann war schon dort, an der Spitze seines eigenen Sondereinsatzkommandos. Ich meldete mich bei Oberführer Dr. Geschke, dem verantwortlichen Offizier, der mich mit meinem Häuflein in einer Baracke einquartierte. Bei meinem Aufbruch in Berlin hatte ich erfahren, dass der ungarische Reichsverweser Horthy vom Führer auf Schloss Klessheim bei Salzburg empfangen wurde. Nach dem Krieg wurden die Ereignisse von Klessheim bekannt: Von Hitler und Ribbentrop brutal vor die Wahl zwischen der Bildung einer neuen deutschfreundlichen Regierung und der Invasion seines Landes gestellt, entschied sich Horthy – ein Admiral ohne Flotte, der ein Land ohne Küste als König ohne Königreich regierte – nach einem Herzanfall, das Schlimmste zu verhindern. Damals wussten wir allerdings noch nichts davon: Geschke und Achamer-Pifrader begnügten sich damit, die höheren Offiziere am Abend des 18. zusammenzurufen und ihnen mitzuteilen, dass wir am folgenden Tag nach Budapest aufbrechen würden. Die Gerüchteküche brodelte natürlich; viele machten sich auf ungarischenWiderstand an der Grenze gefasst, wir bekamen den Befehl, Felduniformen anzuziehen, Maschinenpistolen wurden ausgegeben. Die Stimmung war freudig erregt: Für viele dieser Beamten der Geheimen Staatspolizei oder des SD war es die erste Geländeerfahrung; und nach fast einem Jahr Berlin, nach der Eintönigkeit der bürokratischen Routine, den heimtückischen Intrigen, den zermürbenden Bombenangriffen, die wir hilflos über uns hatten ergehen lassen müssen, ließ selbst ich mich von der allgemeinen Aufregung anstecken. Am Abend trank ich ein paar Gläser mit Eichmann, den ich inmitten seiner Offiziere angetroffen hatte, strahlend in seiner neuen feldgrauen Uniform posierend, die so elegant geschnitten war wie eine Paradeuniform. Ich kannte nur einen Teil seiner Kameraden; er erklärte mir, dass er für die Operation seine besten Fachleute aus ganz Europa habe kommen lassen, aus Italien, Kroatien, Litzmannstadt, Theresienstadt. Er machte mich mit seinem Freund Hauptsturmführer Wisliceny bekannt, dem Patenonkel seines Sohnes Dieter, einem entsetzlich fetten, ruhigen und gelassenen Mann, der aus der Slowakei angereist war. Wir waren guten Mutes und tranken wenig, waren aber alle voll ungeduldiger Erwartung. Ich kehrte in meine Baracke zurück, um mich etwas auszuruhen,
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