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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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lassen, aber da habe es Probleme gegeben, und deshalb habe er es erst einmal aufgeschoben, er habe um die Genehmigung gebeten, das »Familienlager« Theresienstadt zu räumen, habe sie aber noch nicht erhalten und könne bis dahin wirklich nur die Besten selektieren, auf jeden Fall würden sie rasch an Krankheiten sterben, wenn er mehr nähme. All das erklärte er mir seelenruhig, die leeren blauen Augen gedankenverloren auf die Menge oben auf der Rampe gerichtet. Ich war verzweifelt, dieser Mann war vernünftigen Argumenten noch schwerer zugänglich als Eichmann. Er bestand darauf, mir die Vernichtungsanlagen zu zeigen und mir alles zu erklären: Er hatte die Sonderkommandos von 220 auf 860 Mann aufgestockt, aber man hatte die Kapazität der Kremas überschätzt; nicht die Gasanlagen waren das eigentliche Problem, sondern die überlasteten Öfen; um Abhilfe zu schaffen, hatte er Verbrennungsgruben ausheben und die Sonderkommandos stärker antreiben lassen, das brachte die nötige Verbesserung, er kam auf einen Durchschnitt von sechstausend Einheiten pro Tag, woraus folgte, dass einige manchmal bis zum nächsten Tag warten mussten, wenn besonders viel zu tun war. Es war grässlich, der Rauch und die von Petroleum und Körperfett genährten Flammen der Gruben mussten kilometerweit zu sehen sein, ich fragte ihn, ob das nicht zum Ärgernis werden könnte: »Oh, die Kreisbehörden sind beunruhigt, aber das ist nicht mein Problem.« Wenn man ihm Glauben schenken durfte, war nichts von dem, was für ihn ein Problem hätte sein sollen, sein Problem. Gereizt bat ich ihn, mir die Baracken zu zeigen. Der neue Abschnitt, der seit einiger Zeit als Durchgangslager für die ungarischen Juden vorgesehen war, war unvollendet geblieben; Tausende vonFrauen, bleich und bereits abgemagert, obwohl sie erst seit Kurzem im Lager waren, drängten sich in diesen langen stinkenden Stallungen zusammen; viele hatten keinen Platz und schliefen draußen im Schlamm; obwohl man nicht genügend gestreifte Häftlingskleidung für sie hatte, ließ man ihnen nicht ihre eigenen Sachen, sondern staffierte sie mit Lumpen aus »Kanada« aus; ich sah auch Frauen, die vollkommen nackt oder nur mit einem Hemd bekleidet waren, unter dem zwei gelbe schlaffe Beine hervorschauten, manchmal mit Exkrementen beschmutzt. Kein Wunder, dass sich der Jägerstab beklagte! Mit ein paar vagen Worten gab Höß den anderen Lagern die Schuld: Angeblich wiesen sie die Transporte aus Platzmangel zurück. Den ganzen Tag schritt ich das Lager ab, Abschnitt für Abschnitt, Baracke für Baracke; die Männer waren in einem kaum besseren Zustand als die Frauen. Ich inspizierte die Häftlingsverzeichnisse: Natürlich hielt sich niemand an die Grundregel jeder Lagerhaltung: zuerst hinein – zuerst hinaus ; während einige Neuankömmlinge noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden im Lager verbrachten, bevor sie weiterbefördert wurden, vegetierten andere dort drei Wochen vor sich hin, fielen vom Fleisch und starben nicht selten, was die Verluste erhöhte. Doch für jedes Problem, auf das ich Höß hinwies, fand er unvermeidlich jemand anderen, dem er die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Seine von der Vorkriegszeit geprägte Geisteshaltung war vollkommen ungeeignet für die Aufgabe, das sprang in die Augen; doch er war nicht allein verantwortlich, Schuld hatten auch diejenigen, die ihn hergeschickt hatten, Liebehenschel zu ersetzen, der, da bin ich mir sicher, auch wenn ich ihn nur wenig kannte, die Aufgabe ganz anders gelöst hätte. So lief ich bis zum Abend umher. Mehrfach regnete es während des Tages, kurze erfrischende Frühlingsschauer, die den Staub niederschlugen, aber auch das Elend der Häftlinge vertieften, die unter freiem Himmel blieben, selbst wenn diemeisten vor allem bemüht waren, ein paar Tropfen zum Trinken zu ergattern. Der ganze hintere Bereich des Lagers wurde von Feuer und Rauch beherrscht, auch über die ruhige Fläche des Birkenwalds hinaus. Am Abend schoben sich wieder die endlosen Schlangen von Frauen, Kindern und Alten von der Rampe durch einen langen stacheldrahtbewehrten Gang zu den Kremas III und IV, wo sie unter den Birken geduldig warteten, bis sie an der Reihe waren, und das schöne Licht der untergehenden Sonne strich über die Wipfel des Birkenwaldes, dehnte die Schatten der Barackenreihen ins Unendliche, tauchte das düstere Grau der Rauchschwaden in den gelblichen Schimmer holländischer Gemälde, warf weiche Reflexe auf die Pfützen und

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