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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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und im Morgenmantel: »Herr Obersturmbannführer! Herr Obersturmbannführer!« Sie hatte mich geweckt, und ich war ungehalten: »Was gibt es denn, Frau Zempke?« – »Die haben versucht, den Führer zu töten!« In abgerissenen Sätzen berichtete sie, was sie im Radio gehört hatte: Im Führerhauptquartier in Ostpreußen habe es ein Attentat gegeben, aber der Führer sei unversehrt, am Nachmittag habe er Mussolini empfangen, dann seine Arbeit wieder aufgenommen. »Und?«, fragte ich. »Na ja, das ist doch schrecklich!« – »Gewiss«, erwiderte ich unfreundlich. »Aber der Führer ist am Leben, sagen Sie, das ist entscheidend. Danke.« Ich legte mich wieder hin; etwas ratlos wartete sie einen Augenblick, dann trat sie den Rückzug an. Ich muss gestehen, dass ich über diese Nachricht nicht weiter nachdachte: Ich dachte auch sonst an gar nichts. Einige Tage später schaute Thomas nach mir. »Du siehst ja schon wohler aus.« – »Etwas«, erwiderte ich. Ich hatte mich endlich rasiert, allmählich musste ich wieder menschliche Züge annehmen; ich hatte aber noch Mühe, meinen Gedanken eine zusammenhängende Form zu geben, sie zerfielen bei dieser Anstrengung, sodass nur isolierte Bruchstücke blieben, Helene, der Führer, meine Arbeit, Mandelbrod, Clemens und Weser, ein unauflösliches Durcheinander. »Hast du schon die Neuigkeit gehört?«, fragte Thomas, der sich ans Fenster gesetzt hatte und rauchte. »Ja. Wie geht es dem Führer?« –»Dem Führer geht es gut. Aber das war mehr als ein Attentat. Die Wehrmacht, zumindest ein Teil, hat einen Staatsstreich versucht.« Ich grunzte überrascht, und Thomas berichtete mir die Einzelheiten. »Anfangs nahmen wir an, dass es sich nur um eine Offiziersverschwörung handle. Tatsächlich handelt es sich aber um ein weitverzweigtes Komplott: Cliquen innerhalb der Abwehr, im Auswärtigen Amt, unter dem alten Landadel. Sogar Nebe scheint beteiligt gewesen zu sein. Er ist seit gestern verschwunden, nachdem er zunächst den Schein hat wahren wollen, indem er Verschwörer verhaftet hat. Wie Fromm. Kurzum, ein ziemlicher Kuddelmuddel. Für Fromm ist der Reichsführer zum Befehlshaber des Ersatzheers ernannt worden. Selbstverständlich wird jetzt der SS eine entscheidende Rolle zufallen.« Seine Stimme war angespannt, aber fest und entschlossen. »Was ist im Auswärtigen Amt passiert?«, fragte ich. »Du denkst an deine Freundin? Da sind schon eine ganze Menge Leute verhaftet worden, unter anderen auch einige von ihren Vorgesetzten; mit der Verhaftung von Trott zu Solz ist jeden Tag zu rechnen. Aber ich glaube, um sie brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« – »Ich mache mir keine Sorgen. Ich frage, das ist alles. Kümmerst du dich um all das?« Thomas nickte. »Kaltenbrunner hat eine Sonderkommission gebildet, die die Angelegenheit in all ihren Verästelungen untersuchen soll. Huppenkothen wird sie leiten, und ich werde sein Stellvertreter sein. Panzinger wird wohl Nebes Nachfolger bei der Kripo. Bei der Geheimen Staatspolizei jedenfalls hatte die Umstellung schon angefangen, das wird die Aufklärung beschleunigen.« – »Und worauf waren deine Verschwörer aus?« – »Es sind nicht meine Verschwörer«, sagte er scharf. »Das war ganz unterschiedlich. Die meisten dachten wohl, ohne Führer und Reichsführer würden die Westmächte einen Separatfrieden akzeptieren. Sie wollten die SS zerschlagen. Offenbar waren sie sich nicht darüber im Klaren, dass das ein neuer Dolchstoßwar, wie 1918. Als ob Deutschland diesen Verrätern gefolgt wäre! Ich habe den Eindruck, dass viele von ihnen nicht ganz bei Trost waren: Einige glaubten sogar, sie könnten Elsass-Lothringen behalten, sobald sie die Hosen runtergelassen hätten. Und die einverleibten Gebiete auch. Diese Spinner! Aber das wird sich schon bald alles zeigen: Sie waren so bescheuert, vor allem die Zivilisten, dass sie fast alles schriftlich festgehalten haben. Wir haben eine Unzahl von Plänen und Ministerlisten für die neue Regierung gefunden. Sie haben sogar deinen Freund Speer auf eine der Listen gesetzt: Ich kann dir sagen, der hat im Augenblick ganz schön Schiss.« – »Und wer sollte die Führung übernehmen?« – »Beck. Aber der ist tot. Selbstmord. Fromm hat auch gleich eine ganze Reihe von Leuten an die Wand stellen lassen, um seine Beteiligung zu verschleiern.« Er erklärte mir die Einzelheiten des Attentats und des gescheiterten Putsches. »Das hätte um Haaresbreite geklappt. So knapp war es noch nie. Du

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