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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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sterben, um mit allem ein Ende zu machen. In den frühen Morgenstunden kam Piontek mit einem Korb voller Apfelsinen an, in Deutschland damals eine unerhörte Kostbarkeit. »Herr Mandelbrod hat sie in die Dienststelle geschickt«, erklärte er. Helene nahm zwei heraus und ging zu Frau Zempke hinunter, um sie auszudrücken; dann richtete sie mich mit Pionteks Hilfe in den Kissen auf und flößte mir den Saft in kleinen Schlucken ein; er hinterließ einen seltsamen, fast metallischen Nachgeschmack in meinem Mund. Piontek führte eine kurze geflüsterte Unterhaltung mit ihr, die ich nicht verstand, dann ging er. Frau Zempke kam herauf, sie hatte das Bettzeug vom Vortag gewaschen und getrocknet und half Helene, die Bettwäsche zu wechseln, die vom Nachtschweiß schon wiederdurchnässt war. »Gut, dass Sie schwitzen«, sagte sie, »das vertreibt das Fieber.« Das war mir vollkommen gleichgültig, ich wollte mich nur ausruhen, hatte aber keinen Augenblick Frieden, denn der Sturmbannarzt vom Vortag war wiedergekommen und untersuchte mich mit bedenklicher Miene: »Sie wollen noch immer nicht ins Krankenhaus?« – »Nein, nein, nein.« Er ging ins Wohnzimmer, um sich mit Helene zu besprechen, kam dann zurück: »Ihr Fieber ist etwas zurückgegangen«, sagte er zu mir. »Ich habe Ihre Bekannte gebeten, Ihre Temperatur regelmäßig zu messen: Wenn das Fieber wieder über 41 Grad steigt, müssen Sie ins Krankenhaus. Verstanden?« Er gab mir eine Spritze in den Hintern, es tat genauso weh wie am Tag zuvor. »Ich lasse Ihnen noch eine hier, Ihre Bekannte gibt sie Ihnen heute Abend, das wird das Fieber über Nacht senken. Versuchen Sie etwas zu essen.« Nachdem er gegangen war, brachte Helene Bouillon: Sie nahm ein Stück Brot, zerbröckelte es, tauchte es in die Brühe und versuchte mich zu bewegen, es hinunterzuschlucken, aber ich schüttelte den Kopf, es war unmöglich. Trotzdem gelang es mir, ein bisschen Brühe zu trinken. Wie nach der ersten Spritze hatte ich auch jetzt wieder einen klareren Kopf, war aber ausgelaugt, leer. Ich wehrte mich noch nicht einmal, als Helene mir geduldig den Körper mit einem Schwamm und lauwarmem Wasser abwusch und mir dann einen von Herrn Zempke geborgten Pyjama anzog. Erst als sie mich fest in die Decke gewickelt hatte und sich hinsetzen wollte, um zu lesen, platzte mir der Kragen: »Warum tun Sie das alles?«, fragte ich sie böse. »Was wollen Sie von mir?« Sie klappte das Buch zu und richtete ihre großen Augen ruhig auf mich: »Ich will gar nichts von Ihnen. Ich möchte Ihnen einfach helfen.« – »Warum? Was erhoffen Sie sich?« – »Nicht das Geringste.« Sie hob leicht die Schultern. »Ich bin aus Freundschaft gekommen, um Ihnen zu helfen, das ist alles.« Sie saß mit dem Rücken zum Fenster, ihr Gesicht lag imSchatten, ich musterte es angestrengt, konnte aber nichts darin erkennen. »Aus Freundschaft?«, fuhr ich sie an. »Was für eine Freundschaft? Was wissen Sie von mir? Wir sind einige Male zusammen ausgegangen, das ist alles, und jetzt wollen Sie sich hier häuslich niederlassen.« Sie lächelte: »Regen Sie sich nicht so auf. Es wird Sie erschöpfen.« Dieses Lächeln gab mir den Rest: »Was weißt du von Erschöpfung? Was? Was weißt du schon davon?« Ich hatte mich aufgerichtet, jetzt sank ich kraftlos zurück, den Kopf gegen die Wand. »Du hast keine Ahnung, du weißt ja gar nicht, was Erschöpfung ist, du führst das züchtige Leben der deutschen Frau, schließt die Augen, siehst nichts, gehst zur Arbeit, suchst einen neuen Mann und nimmst nichts von dem wahr, was um dich herum vorgeht.« Ihr Gesicht blieb ruhig, sie reagierte nicht auf das ungehörige Du, ich fuhr fort, spuckte und schrie: »Du weißt überhaupt nichts von mir, nichts von dem, was ich tue, nichts von meiner Erschöpfung; seit drei Jahren töten wir Menschen, ja, das tun wir, wir töten Juden, wir töten Zigeuner, Russen, Ukrainer, Polen, Kranke, Alte, Frauen, junge Frauen wie dich, Kinder!« Ihre Miene war jetzt versteinert, sie sagte immer noch nichts, doch ich war nicht mehr zu bremsen: »Und die, die wir nicht töten, schicken wir zur Arbeit in unsere Fabriken, wie Sklaven, das ist eine wirtschaftliche Frage, musst du wissen. Spiel nicht die Unschuldige! Was glaubst du denn, woher deine Kleidung kommt? Und die Flakgranaten, die dich vor den Feindflugzeugen schützen? Und die Panzer, die die Bolschewisten im Osten aufhalten? Wie viele Sklaven sind gestorben, damit sie hergestellt werden konnten? Hast du

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