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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Stirn und meiner Wange, die mein durchnässtes Haar zurückschob, mir flüchtig über den sprießenden Bart strich, später erzählte sie mir, ich hätte mit lauter Stimme zu reden begonnen, das habe sie aus dem Schlaf gerissen und an mein Bett geführt, Satzfetzen, weitgehend unzusammenhängend, beteuerte sie, aber sie wollte mir nie verraten, wie viel sie verstanden hatte. Ich bestand nicht darauf, ich ahnte, dass es besser so war. Am nächsten Morgen war das Fieber unter 39 Grad gesunken. Als Piontek kam, um sich nach mir zu erkundigen, schickte ich ihn in die Dienststelle, um den echten Bohnenkaffee, den ich dort aufbewahrte, für Helene zu holen. Als der Arzt kam, um mich zu untersuchen, gratulierte er mir: »Sie sind über den Berg. Aber noch haben Sie es nicht überstanden, Sie müssen wieder zu Kräften kommen.« Ich fühlte mich wie ein Schiffbrüchiger, der sich nach einem verzweifelten und kräftezehrenden Kampf gegen das Meer endlich auf den Strand rollen lässt: Ich würde vielleicht doch nicht sterben. Aber der Vergleich hinkt, weil der Schiffbrüchige schwimmt, um sein Leben kämpft, während ich nichts getan, mich einfach hatte gehen lassen und der Tod mich nur nicht hatte haben wollen. Gierig trank ich den Orangensaft, den Helene mir brachte. Gegen Mittag richtete ich mich etwas auf: Einen Sommerpullover über der Schulter und eine dampfende Tasse Kaffee in der Hand, lehnte Helene in der Tür zwischen Schlaf- und Wohnzimmer und betrachtete mich zerstreut. »Ich wollte, ich könnte auch Kaffee trinken«, sagte ich. »Oh! Warten Sie, ich helfe Ihnen.« – »Nicht nötig.« Ich hatte mich weitgehend aufgesetzt und es geschafft, mir ein Kissen in den Rücken zu schieben. »Ich möchte mich für meine gestrigen Äußerungen entschuldigen. Ich war abscheulich.« Sie schüttelte beschwichtigend den Kopf, trank einen Schluck Kaffee undwandte den Kopf in Richtung Balkontür. Einen Augenblick später sah sie mich wieder an: »Was Sie da gesagt haben … über die Toten. Ist das wahr?« – »Wollen Sie es wirklich wissen?« – »Ja.« Sie blickte mich mit ihren schönen Augen forschend an, ich meinte, einen unruhigen Schimmer in ihnen zu entdecken, aber sie blieb ruhig, Herrin ihrer selbst. »Alles, was ich gesagt habe, ist wahr.« – »Auch die Frauen und Kinder?« – »Ja.« Sie wandte den Kopf ab, biss sich auf die Oberlippe; als sie mich wieder ansah, waren ihre Augen voller Tränen: »Das ist traurig«, sagte sie. »Ja, das ist entsetzlich traurig.« Sie überlegte einen Augenblick, bevor sie weitersprach: »Sie wissen, dass wir dafür bezahlen werden.« – »Ja. Wenn wir den Krieg verlieren, wird die Rache unserer Feinde gnadenlos sein.« – »Das meine ich nicht. Selbst wenn wir den Krieg nicht verlieren, werden wir bezahlen. Dafür muss bezahlt werden.« Wieder zögerte sie. »Sie tun mir leid«, schloss sie. Dann sprach sie nicht mehr darüber und verrichtete weiter ihre Pflegedienste, selbst die unangenehmsten. Aber ihre Handreichungen schienen jetzt von anderer Qualität zu sein, kälter, sachlicher. Sobald ich aufstehen konnte, bat ich sie, nach Hause zurückzukehren. Sie ließ sich etwas bitten, aber ich bestand darauf: »Sie müssen doch erschöpft sein. Gehen Sie sich ausruhen. Frau Zempke kann sich um die Dinge kümmern, die ich brauche.« Schließlich willigte sie ein und räumte ihre Sachen in den kleinen Koffer. Ich rief Piontek an, damit er sie nach Hause fuhr. »Ich rufe Sie an«, sagte ich. Als Piontek kam, brachte ich sie zur Wohnungstür. »Danke für die Pflege«, sagte ich und gab ihr die Hand. Sie nickte, sagte aber nichts. »Auf bald«, sagte ich kühl.
    Die folgenden Tage verbrachte ich damit, zu schlafen. Ich hatte noch Fieber, um die 38, manchmal 39 Grad; aber ich trank Orangensaft und Fleischbrühe, aß Brot, etwas Huhn. Nachts gab es häufig Fliegeralarm, aber ich achtete nicht darauf (vielleicht hatte es auch welche in meinen dreiDeliriumsnächten gegeben, aber das weiß ich nicht). Es waren kleine Angriffe, eine Handvoll Mosquitos, die auf gut Glück ein paar Bomben abwarfen, meist über Verwaltungszentren. Doch eines Abends nötigten mich Frau Zempke und ihr Mann, mir einen Morgenmantel anzuziehen und in den Luftschutzkeller hinunterzugehen; die Anstrengung schwächte mich dermaßen, dass ich anschließend in meine Wohnung hinaufgetragen werden musste. Einige Tage nach Helenes Fortgang stürzte Frau Zempke erhitzt am frühen Abend in meine Wohnung, mit Lockenwicklern

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