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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Dinge entwickeln. Wir hoffen, dass du wieder Tritt fasst.« Ich sagte nichts, und er hob einen Finger. Wieder erschien der Oberkellner; Leland flüsterte ihm einige Worte zu und stand auf. Ich erhob mich ebenfalls. »Auf bald«, sagte er mit seiner monotonen Stimme. »Wenn du etwas brauchst, setz dich mit uns in Verbindung.« Er ging, ohne mir die Hand zu geben, den Oberkellner im Schlepptau.Ich hatte meinen Tee nicht angerührt. Nun ging ich an die Bar und bestellte einen Kognak, den ich in einem Zug hinunterkippte. Eine angenehme Stimme neben mir, etwas schleppend und mit starkem Akzent, sagte: »Ist es nicht etwas früh am Tag, so zu trinken? Möchten Sie noch einen?« Es war der junge Mann mit Fliege. Ich willigte ein; er bestellte zwei und stellte sich vor: Mihai I., Dritter Legationssekretär in der rumänischen Gesandtschaft. »Wie stehen die Dinge bei der SS?«, fragte er, nachdem wir angestoßen hatten. »Bei der SS? So lala. Und im diplomatischen Korps?« Er zuckte die Achseln: »Mies. Da sind nur noch« – er machte eine weit ausholende Geste in Richtung Saal – »die letzten Mohikaner. Wegen der Rationierungsmaßnahmen lassen sich keine richtigen Cocktailpartys mehr veranstalten, aber hier kommen wir wenigstens einmal pro Tag zusammen. Abgesehen davon, habe ich noch nicht einmal mehr eine Regierung, die ich vertreten könnte.« Nach der Kriegserklärung Ende August an Deutschland hatte Rumänien jetzt vor den Sowjets kapituliert. »Richtig. Wen vertreten Sie denn jetzt?« – »Im Grunde Horia Sima. Aber nur auf dem Papier, Herr Sima kann sich sehr gut allein vertreten. Wie dem auch sei« – wieder umfing er mit einer Handbewegung mehrere der Anwesenden –, »wir sind praktisch alle in der gleichen Situation. Vor allem meine französischen und bulgarischen Kollegen. Die Finnen sind fast alle abgereist. Nur noch die Schweizer und Schweden sind echte Diplomaten.« Er betrachtete mich lächelnd: »Kommen Sie mit uns zu Abend essen. Ich mache Sie mit anderen befreundeten Gespenstern bekannt.«
    In Liebesdingen – ich habe es wohl schon erwähnt – hatte ich immer sorgsam darauf geachtet, mich von Intellektuellen und Männern meiner sozialen Herkunft fernzuhalten: Sie wollten immer reden und hatten die lästige Neigung, sich zu verlieben. Bei Mihai machte ich eine Ausnahme, aber bei ihm bestand auch wenig Gefahr, er war ein frivoler undamoralischer Zyniker. Er hatte ein Häuschen im Westend; unter dem Vorwand, noch ein Glas trinken zu wollen, ließ ich mich am ersten Abend nach dem Essen zu ihm einladen und verbrachte dort die Nacht. Trotz seines exzentrischen Aussehens hatte er den harten, sehnigen Körper eines Athleten, sicherlich ein Erbteil seiner bäuerlichen Vorfahren, am ganzen Körper braune, dicht gelockte Haare und einen rauen, männlichen Geruch. Es amüsierte ihn königlich, einen SS-Mann verführt zu haben: »Wehrmacht oder Auswärtiges Amt, das ist ein Kinderspiel.« Ich traf mich von Zeit zu Zeit mit ihm. Manchmal ging ich zu ihm, nachdem ich mit Helene zu Abend gegessen hatte, dann bediente ich mich seiner brutal und hemmungslos, als wollte ich mir die stummen Wünsche meiner Freundin aus dem Kopf waschen oder meine eigene Ambivalenz.

 
     
    Im Oktober, kurz nach meinem Geburtstag, wurde ich wieder nach Ungarn geschickt. Von dem Bach und Skorzeny hatten Horthy durch einen Handstreich gestürzt, jetzt waren Szálasis Pfeilkreuzler an der Macht. Kammler verlangte lauthals Arbeitskräfte für seine unterirdischen Fabriken und für die V2, deren erste Modelle im September abgefeuert worden waren. Die sowjetischen Truppen drangen im Süden bereits nach Ungarn und in Ostpreußen sogar auf Reichsgebiet vor. In Budapest war das SEK im September aufgelöst worden, doch Wisliceny befand sich noch immer dort, und Eichmann ließ auch nicht lange auf sich warten. Wieder war es ein kompletter Fehlschlag. Die Ungarn erklärten sich bereit, uns fünfzigtausend Budapester Juden zu überlassen (im November wies Szálasi bereits mit Nachdruck darauf hin, dass sie nur »geliehen« seien), aber sie mussten für Kammler und den Bau des Ostwalls nach Wien verbracht werden, und es gabkeine Transportmittel mehr: Vermutlich in Absprache mit Veesenmayer beschloss Eichmann, sie dorthin marschieren zu lassen. Der Rest ist bekannt: Viele starben unterwegs, und der Offizier, der für die Entgegennahme zuständig war, Obersturmbannführer Höse, wies die meisten von denen, die ankamen, zurück, weil er – wieder

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