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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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der Rückeroberung der Stadt von den Russen Ende Oktober Entsetzliches entdeckt: vergewaltigte Frauen jeden Alters, Eltern, die vor den Augen ihrer verstümmelten Kinder lebend an Türen genagelt worden waren; und dort hatte es sich um Ungarn, nicht um Deutsche gehandelt), sah sie mich lange an, dann sagte sie leise: »War es denn in Russland anders?« Ich antwortete nicht, sondern betrachtete ihre ungewöhnlich zarten Handgelenke, die aus den Ärmeln hervorschauten; ich sagte mir, dass ich sie leicht mit Daumen und Zeigefinger hätte umspannen können. »Ich weiß, ihre Rache wird schrecklich sein«, sagte sie dann. »Aber wir haben sie verdient.« Anfang November ging meine Wohnung, die bis dahin wie durch ein Wunder verschont geblieben war, bei einem Fliegerangriff verloren: Eine Luftmine hatte das Dach durchschlagen und die beiden oberen Etagen in die Luft gejagt; der arme Herr Zempke erlag einem Herzinfarkt, als er aus dem halb eingestürzten Keller kam. Zum Glück hatte ich mir angewöhnt, einen Teil meiner Kleidung und meiner Wäsche im Büro aufzubewahren. Mihai bot mir an, bei ihm einzuziehen; ich richtete mich aber lieberin Wannsee bei Thomas ein, der dorthin gezogen war, nachdem im Mai sein Haus in Dahlem abgebrannt war. Er führte ein wildes Leben, ständig waren ein paar Verrückte aus dem Amt VI da, ein oder zwei Kameraden von Thomas, Schellenberg und Mädchen natürlich. Schellenberg diskutierte häufig außerdienstlich mit Thomas, nahm sich vor mir aber sichtlich in Acht. Eines Tages kam ich etwas früher nach Hause und vernahm eine angeregte Unterhaltung im Wohnzimmer, laute Stimmen, Schellenbergs spöttischen, eindringlichen Tonfall: »Wenn dieser Bernadotte einverstanden ist …« Er hielt inne, als er mich in der Tür stehen sah, und begrüßte mich fröhlich: »Freut mich, Sie zu sehen, lieber Aue«, nahm aber seine Unterhaltung mit Thomas nicht wieder auf. Wenn ich der Feierlaune meines Freundes überdrüssig war, ließ ich mich manchmal von Mihai überreden. Er besuchte die täglichen Abschiedsfeste von Dr. Kosak, dem kroatischen Botschafter, die entweder in der Gesandtschaft stattfanden oder in dessen Dahlemer Villa; die Creme des diplomatischen Korps und des Auswärtigen Amts schlug sich den Bauch voll, betrank sich und frequentierte die hübschesten Stars der Ufa, die dort waren, Maria Milde, Ilse Werner, Marika Rökk. Um Mitternacht sang ein Chor dalmatinische Volkslieder; nach dem üblichen Mosquito-Angriff kamen die Artilleristen der benachbarten kroatischen Flakbatterien herüber, um bis zum Morgengrauen zu trinken und Jazz zu spielen; unter ihnen war auch ein Offizier, ein Überlebender von Stalingrad, aber ich hütete mich, ihm zu erzählen, dass auch ich einer war, ich wäre ihn nicht mehr losgeworden. Diese Bacchanalien entarteten manchmal zu Orgien – etliche Paare umschlangen sich in den Alkoven der Gesandtschaft, die leer Ausgegangenen gingen frustriert in den Garten und schossen die Magazine ihrer Pistolen leer: Eines Abends trieb ich es betrunken mit Mihai im Schlafzimmer des Botschafters, der unten auf einem Sofa schnarchte; anschließend kam Mihai, noch immererregt, mit einer kleinen Schauspielerin wieder nach oben und nahm sie vor meinen Augen, während ich eine Flasche Slibowitz leerte und über die Knechtschaft des Fleisches meditierte. Diese eitle und rasende Fröhlichkeit konnte nicht von Dauer sein. Ende Dezember, als die Russen Budapest belagerten und unsere letzte Offensive in den Ardennen stecken blieb, schickte mich der Reichsführer zur Inspektion der Evakuierung von Auschwitz.
     
     
    Im Sommer hatte uns die verspätete und überstürzte Evakuierung des KL Lublin einige Sorgen bereitet: Die Sowjets hatten intakte Einrichtungen und volle Lagerhallen vorgefunden, Wasser auf den Mühlen ihrer Gräuelpropaganda. Seit Ende August biwakierten ihre Truppen an der Weichsel, aber es bestand kein Zweifel daran, dass sie dort nicht stehen bleiben würden. Es mussten Maßnahmen ergriffen werden. Die etwaige Evakuierung der Lager und Nebenlager des Auschwitz-Komplexes fiel in die Verantwortlichkeit von Obergruppenführer Ernst Schmauser, dem HSSPF des Wehrkreises VIII, zu dem Oberschlesien gehörte; die Operationen würden vom Lagerpersonal durchgeführt, erklärte mir Brandt. Meine Aufgabe sei es, darauf zu achten, dass die Evakuierung der einsatzfähigen und in guter Verfassung befindlichen Arbeitskräfte, die auf dem Reichsgebiet verwendet werden sollten, vorrangig

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