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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Sieg für sie, eine neue Demonstration ihrer Stärke. Daher denke ich, dass eine Vorbedingung für jede positive Entwicklung nach dem Kriege eine Regelung der Kirchenfrage sein wird. Radikal, wenn es sein muss: Diese Pfaffen sind fast noch schlimmer als die Juden. Glauben Sie nicht? Ich bin in diesem Punkt ganz einer Meinung mit dem Führer: Die christliche Religion ist eine jüdische Religion, von Saulus, einem jüdischen Rabbiner, als Mittel gegründet, um dem Judentum, neben dem Bolschewismus die gefährlichste Weltanschauung, mehr Geltung zu verschaffen. Die Juden auszuschalten und die Christen zu behalten, das hieße auf halbem Wege stehen zu bleiben.« Ich hörte mir das alles mit todernster Miene an und machte mir Notizen. Erst am Schluss der Unterredung kam der Reichsführer auf meine Affäre zu sprechen: »Es wurde nicht der geringste Beweis gefunden, nicht wahr?« – »Nein, mein Reichsführer. Es gibt keinen.« – »Sehr schön. Ich wusste gleich, dass das eine Dummheit war. Aber es ist doch besser, dass sie sich selbst davon überzeugen, oder?« Er brachte mich zur Tür und gab mir die Hand, nachdem ich gegrüßt hatte: »Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Arbeit, Obersturmbannführer. Sie sind ein Offizier mit großer Zukunft.«
    Mit großer Zukunft? Die Zukunft schien mir eher mitjedem Tag zu schrumpfen, meine ebenso wie die Deutschlands. Als ich mich umwandte, blickte ich mit Schrecken in den langen dunklen Gang, den Tunnel, der aus den Tiefen der Vergangenheit bis zum gegenwärtigen Moment führte. Was war aus den grenzenlosen Weiten geworden, die sich vor uns auftaten, als wir, am Ausgang der Kindheit, die Zukunft mit Energie und Zuversicht in Angriff nahmen? Diese ganze Kraft hatte uns anscheinend nur dazu gedient, uns ein Gefängnis, wenn nicht gar einen Galgen errichtet zu haben. Seit meiner Krankheit sah ich niemanden mehr, den Sport überließ ich anderen. Meistens aß ich allein zu Hause und genoss bei weit geöffneter Balkontür die milde Luft des Spätsommers und die wenigen grünen Blätter in den Ruinen der Stadt, vor dem letzten Aufflammen ihrer Farben. Von Zeit zu Zeit ging ich mit Helene aus, doch über diesen Treffen lag eine schmerzliche Scham; beide suchten wir wohl die Süße und den intensiven Zauber der ersten Monate, aber er war verschwunden, und wir fanden ihn nicht wieder, bemühten uns aber gleichzeitig, so zu tun, als hätte sich nichts geändert – es war eigenartig. Ich verstand nicht, warum sie unbedingt in Berlin bleiben wollte: Ihre Eltern hatten bei einem Cousin im Badischen Unterschlupf gefunden, doch als ich sie drängte – ehrlich und nicht mit der unerklärlichen Brutalität aus der Zeit meiner Krankheit –, ihnen nachzureisen, wehrte sie den Vorschlag mit lächerlichen Vorwänden ab – ihrer Arbeit oder der Beaufsichtigung ihrer Wohnung. In hellsichtigen Augenblicken sagte ich mir, dass sie meinetwegen blieb, und fragte mich, ob nicht gerade der Schrecken, den ihr meine Äußerungen eingeflößt haben mussten, sie dazu bewog und sie ermutigte, ob sie nicht vielleicht hoffte, mich vor mir selbst zu retten , eine vollkommen lächerliche Idee, wenn es zutreffen sollte, aber wer weiß schon, was im Kopf einer Frau vorgeht? Da musste noch etwas anderes sein, das merkte ich gelegentlich. Eines Tages gingen wir aufder Straße, ein Auto fuhr durch eine Pfütze in der Nähe: Das Wasser spritzte Helene unter den Rock, bis zum Schenkel hoch. Etwas unmotiviert brach sie in ein anstößiges, fast hysterisches Gelächter aus. »Warum lachen Sie? Was ist so komisch?« – »Sie, Sie sind es«, stieß sie, noch immer lachend, hervor. »So weit oben haben Sie mich nie berührt.« Ich antwortete nicht. Was hätte ich sagen sollen? Ich hätte ihr, um sie zur Vernunft zu bringen, mein Memorandum für den Reichsführer zu lesen geben können; doch ich spürte, dass weder das noch ein offenes Bekenntnis zu meiner Lebensführung sie entmutigt hätten, so war sie, eigensinnig, sie hatte ihre Wahl fast zufällig getroffen, und nun hielt sie halsstarrig daran fest, als zähle die Wahl mehr als der Mensch, den sie erwählt hatte. Warum gab ich ihr nicht den Laufpass? Ich weiß es nicht. Ich kannte nicht viele Menschen, mit denen ich mich unterhalten konnte. Thomas arbeitete vierzehn, sechzehn Stunden am Tag, ich sah ihn kaum. Die meisten meiner Kameraden waren verlagert worden. Hohenegg war, wie ich aus einem Telefonat mit dem OKW erfuhr, im Juli an die Front geschickt worden und noch

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