Die Wohlgesinnten
verteidigen sollte, wurde wegen seiner Arroganz vernichtet, was den Rückzug der Armee beschleunigte. Ich weiß, daß du mir nicht glauben wirst , hatte sie hinzugefügt, aber es ist die Wahrheit, denke darüber, wie du willst. Entsetzt und wutentbrannt zerknüllte ich den Brief und wollte ihn schon zerreißen, hielt aber inne. Ich warf ihn aufden Sekretär und ging unschlüssig im Zimmer auf und ab, ich wollte hinaus, kehrte zurück, zögerte, eine Reihe widersprüchlicher Impulse hemmte mich, schließlich trank ich einen Kognak, was mich etwas beruhigte, nahm die Flasche und ging hinunter, um im Salon weiterzutrinken.
Käthe war eingetroffen und bereitete mir eine Mahlzeit zu, ständig ging sie zur Küche herein und heraus, ich mied ihre Gegenwart. Ich ging in die Diele und öffnete die Tür zu Üxkülls Räumen. Es waren zwei schöne Zimmer, ein Arbeits- und ein Schlafzimmer, geschmackvoll eingerichtet mit alten schweren Möbeln aus dunklem Holz, Orientteppichen, einfachen Metallgegenständen, ein umgerüstetes Badezimmer, sicherlich mit Rücksicht auf seine Lähmung. Als ich mir das alles ansah, überkam mich wieder ein heftiges Schamgefühl, gleichzeitig machte ich mir nichts daraus. Ich ging im Arbeitszimmer umher: Auf dem großen massiven Schreibtisch ohne Stuhl lag nichts; in den Regalen nur Partituren, von Komponisten jeder Couleur, nach Herkunftsland und Epochen geordnet, etwas abseits ein kleiner Stapel gebundener Partituren, seine eigenen Werke. Ich öffnete eine und betrachtete die Notenreihen – für mich eine Abstraktion, die ich nicht lesen konnte. In Berlin hatte mir Üxküll von einem geplanten Werk berichtet, einer Fuge oder, wie er gesagt hatte, einer Folge von seriellen Variationen in Fugenform. »Ich weiß noch nicht, ob sich das, was ich mir vorstelle, tatsächlich verwirklichen lässt«, hatte er gesagt. Als ich ihn gefragt hatte, was das Thema sei, hatte er mich groß angeblickt: »Das ist keine romantische Musik. Es gibt kein Thema. Es ist nur eine Etüde.« – »Und zu welchem Anlass ist sie gedacht?«, hatte ich daraufhin gefragt. »Zu gar keinem. Sie wissen doch genau, dass meine Werke in Deutschland nicht aufgeführt werden. Ich werde sie sicherlich nie aufgeführt sehen.« – »Warum komponieren Sie dann?« Da hatte er gelächelt, ein heiteres, freudiges Lächeln: »Um es getan zu haben, bevor ich sterbe.«
Unter den Partituren waren natürlich auch Rameau, Couperin, Forqueray, Balbastre vertreten. Ich zog einige aus dem Regal, blätterte in ihnen und schaute mir die Titel an, die ich gut kannte. Als ich auf eine Seite von Rameaus Gavotte mit sechs Variationen sah, erklang augenblicklich die Musik in meinem Kopf, klar, heiter, kristallen, wie der Galopp eines Rassepferdes, das im Winter über die russische Ebene gejagt wird, so leicht, dass die Hufe den Schnee nur streifen und nicht die leiseste Spur hinterlassen. Doch ich konnte die Seite noch so genau betrachten, ich konnte in den Zeichen nicht die geringste Andeutung jener berückenden Triller entdecken. Üxküll hatte am Ende unseres Abendessens in Berlin noch einmal von Rameau angefangen. »Sie haben Recht, diese Musik zu mögen«, hatte er gesagt. »Das ist eine klare, souveräne Musik. Nie verliert sie ihre Eleganz, bleibt aber voller Überraschungen und sogar Fallen, sie ist spielerisch, heiter, eine fröhliche Wissenschaft, die weder die Mathematik noch das Leben vernachlässigt.« Merkwürdig dann auch seine Verteidigung Mozarts: »Ich habe ihn lange Zeit falsch eingeschätzt. In meiner Jugend schien er mir ein begabter Hedonist ohne Tiefe zu sein. Aber das war vielleicht das Urteil des Puritaners in mir. Im Älterwerden fange ich an zu glauben, dass er vielleicht ein ebenso starkes Lebensgefühl gehabt hat wie Nietzsche und dass seine Musik nur einfach wirkt, weil das Leben letztlich ziemlich einfach ist. Doch da bin ich mir noch nicht schlüssig, ich muss ihn noch öfter hören.«
Käthe ging wieder, ich aß und leerte dabei feierlich eine weitere von Üxkülls wunderbaren Flaschen. Das Haus begann mir vertraut und lieb zu werden, Käthe hatte wieder Feuer im Kamin gemacht, im Raum herrschte eine angenehme Temperatur, ich war besänftigt und allem wohlgesinnt – dem Feuer, dem guten Wein und sogar dem Porträt des Mannes meiner Schwester an der Wand über diesem Flügel, auf dem ich nicht spielen konnte. Doch das Gefühl hielt nicht langean. Nach dem Essen hatte ich den Tisch abgeräumt und mir ein Glas Kognak
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