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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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eingegossen, ich setzte mich vor den Kamin und versuchte Flaubert zu lesen, aber es gelang mir nicht. Zu vieles trieb mich um. Ich bekam eine Erektion und dachte daran, mich auszuziehen, dieses große dunkle, kalte und stumme Haus nackt zu erkunden, diesen weitläufigen und freien Raum, der zugleich privat und voller Geheimnisse war, wie Moreaus Haus, als wir Kinder waren. Und dieser Gedanke zog einen anderen nach sich, seinen dunklen Doppelgänger, den Gedanken an den streng bewachten, kontrollierten Raum der Lager: die Promiskuität der Baracken, das Gewimmel der Gemeinschaftslatrinen, kein Ort, an dem es möglich war, allein oder zu zweit einen Augenblick des Menschseins zu haben. Darüber hatte ich mich einmal mit Höß unterhalten, der mir versichert hatte, trotz aller Verbote und Vorkehrungen gelänge es den Häftlingen, ihre sexuellen Aktivitäten fortzusetzen, nicht nur den Kapos mit ihren Pipeln oder den Lesben untereinander, sondern auch Männern und Frauen, die Männer schmierten die Wachen, damit sie ihnen ihre Freundinnen brachten, oder schmuggelten sich mit einem Arbeitskommando ins Frauenlager und riskierten den Tod für eine schnelle Erschütterung, das Aneinanderreiben zweier abgezehrter Becken, die kurze Berührung zwischen zwei rasierten, verlausten Körpern. Ich war damals tief beeindruckt von dieser aussichtslosen Erotik, die dazu verurteilt war, unter den eisenbeschlagenen Stiefeln der Wachen zermalmt zu werden, in all ihrer Hoffnungslosigkeit das genaue Gegenteil der freien, unbeschwerten, tabubrechenden Erotik der Reichen, aber vielleicht auch ihre verborgene Wahrheit, führt sie uns doch verstohlen und hartnäckig vor Augen, dass jede wahre Liebe unausweichlich dem Tod zugewandt ist und in ihrem Begehren keine Rücksicht auf das Elend der Körper nimmt. Denn der Mensch hat aus den rohen, keinen Aufschub gewährenden Lebensbedingungen,denen jede geschlechtlich sich fortpflanzende Kreatur unterworfen ist, eine unendliche Vorstellungswelt geschaffen, dunkel und tief, die Erotik, die ihn mehr als alles andere von den Tieren unterscheidet, und genauso hat er es mit dem Begriff des Todes gemacht, wenn diese Vorstellungswelt auch merkwürdigerweise keinen Namen hat (wir könnten sie vielleicht Thanatik nennen): und es sind diese imaginierten Welten, diese obsessiven Gedankenspiele und nicht die Sache selbst, die zum Antrieb unseres unersättlichen Hungers nach Leben, Wissen und Selbstzerfleischung werden. Ich hielt noch immer die Lehrjahre des Gefühls in der Hand, auf meinen Beinen, fast an meinem Geschlecht, ich hatte sie vergessen, während ich meinen Kopf diesen Gedanken eines aufgescheuchten Idioten überließ, im Ohr das ängstliche Schlagen meines Herzens. Am Morgen war ich ruhiger. Im Salon versuchte ich, nachdem ich Kaffee und Brot zu mir genommen hatte, erneut zu lesen, aber meine Gedanken schweiften wieder ab, sie lösten sich von den Sorgen Frédérics und Madame Arnoux’ und gingen ihre eigenen Wege. Ich fragte mich: Wozu bist du hergekommen? Was willst du eigentlich? Warten, dass Una zurückkommt? Warten, dass ein Russe dir die Kehle durchschneidet? Dich umbringen? Ich dachte an Helene. Sie und meine Schwester, sagte ich mir, waren, von einigen Krankenschwestern abgesehen, die beiden einzigen Frauen, die meinen Körper jemals nackt gesehen hatten. Was hatte sie gesehen, was hatte sie gedacht, als sie ihn sah? Was hatte sie in mir gesehen, was ich nicht sah und was meine Schwester schon seit langer Zeit nicht mehr sehen wollte? Ich dachte an Helenes Körper, ich hatte sie oft im Badeanzug gesehen, ihre Formen waren feiner und sehniger als die meiner Schwester, ihre Brüste kleiner. Beide hatten sie eine blasse Haut, aber diese Blässe hob bei meiner Schwester das schwarze dichte Haar hervor, während sie sich bei Helene in der sanften Blondheit ihres Haars fortsetzte. Ihr Geschlecht war sicherauch blond und sanft, aber daran wollte ich nicht denken. Ein plötzlicher Ekel ergriff mich. Ich sagte mir: Die Liebe ist tot, die einzige Liebe ist tot. Ich hätte nicht kommen dürfen, ich muss fort, nach Berlin zurück. Aber ich wollte nicht nach Berlin zurück, ich wollte bleiben. Etwas später stand ich auf und ging hinaus. Ich machte mich erneut zum Wald auf, ich fand eine alte Holzbrücke über die Drage und ging hinüber. Das Unterholz wurde dichter, dunkler, ich kam nur noch auf Forst- und Holzwegen voran, überhängende Zweige hakten sich an meiner Kleidung fest. Weiter weg erhob sich

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