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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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ein kleiner einzelner Berg, von dem sicherlich die ganze Gegend überblickt werden konnte, aber ich stieß nicht bis zu ihm vor, ich ging ohne Ziel, vielleicht im Kreis, bis ich schließlich wieder an den Fluss kam und zum Haus zurückkehrte. Käthe erwartete mich schon und kam mir aus der Küche entgegen: »Herr Busse ist da, mit Herrn Gast und einigen anderen. Sie warten im Hof. Ich habe ihnen etwas zu trinken angeboten.« Busse war von Üxkülls Pächter. »Was wollen sie?«, fragte ich. »Sie möchten mit Ihnen sprechen.« Ich durchquerte das Haus und trat auf den Hof hinaus. Die Bauern saßen auf einem Kremser, dessen mageres Zugpferd die Grashalme abweidete, die aus dem Schnee hervorschauten. Bei meinem Anblick nahmen sie die Mützen ab und sprangen vom Wagen. Einer von ihnen, ein Mann mit rotem Gesicht und grauem Haar, aber noch schwarzem Bart, trat vor und machte eine knappe Verbeugung. »Guten Tag, Herr Obersturmbannführer. Käthe hat uns gesagt, dass Sie der Bruder der gnädigen Frau sind?« Sein Tonfall war höflich, aber er sprach langsam, suchte nach Worten. »Das ist richtig«, sagte ich. »Wissen Sie, wo der Freiherr und die gnädige Frau sich aufhalten? Wissen Sie, was sie vorhaben?« – »Nein. Ich hatte damit gerechnet, sie hier anzutreffen. Ich weiß nicht, wo sie sind. In der Schweiz vermutlich.« – »Es ist nur, weil wir bald fortmüssen, Herr Obersturmbannführer. Wir dürfen nicht längerwarten. Die Roten greifen schon Stargard an, sie haben Arnswalde eingeschlossen. Die Leute sind beunruhigt. Der Kreisleiter sagt, dass sie niemals bis hierher kommen, aber wir glauben das nicht.« Er war verlegen und drehte den Hut in seinen Händen hin und her. »Ich verstehe Ihre Besorgnis, Herr Busse«, sagte ich, »Sie müssen an Ihre Familien denken. Wenn Sie glauben, dass Sie fortmüssen, dann gehen Sie ruhig. Niemand hält Sie zurück.« Sein Gesicht hellte sich etwas auf. »Danke, Herr Obersturmbannführer. Wir haben uns nur Sorgen gemacht, weil das Haus leer war.« Er zögerte. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein Fuhrwerk und ein Pferd geben. Wir helfen Ihnen beim Verladen der Möbel. Wir nehmen sie mit und bringen sie in Sicherheit.« – »Danke, Herr Busse. Ich denke darüber nach. Ich lasse Sie durch Käthe holen, wenn ich einen Entschluss gefasst habe.«
    Die Männer stiegen wieder auf, und das Fuhrwerk entfernte sich langsam durch die Birkenallee. Busses Worte machten nicht den geringsten Eindruck auf mich, es gelang mir nicht, mir die Ankunft der Russen als ein konkretes, unmittelbar bevorstehendes Ereignis vorzustellen. Ich blieb dort stehen, an den Rahmen der großen Tür gelehnt, rauchte eine Zigarette und blickte dem langsam am Ende der Allee entschwindenden Fuhrwerk nach. Später am Nachmittag meldeten sich noch zwei Männer. Sie trugen blaue Jacken aus grober Leinwand, klobige Nagelstiefel, ihre Mützen hielten sie in den Händen; ich sah sofort, dass es sich um die beiden Franzosen vom STO handelte, von denen Käthe mir erzählt hatte, sie arbeiteten für Üxküll in der Landwirtschaft und hielten das Anwesen instand. Neben Käthe waren sie das einzige Personal, das noch geblieben war: Alle Männer waren einberufen worden, der Gärtner war beim Volkssturm, das Zimmermädchen zu seinen Eltern gereist, die nach Mecklenburg evakuiert worden waren. Ich wusste nicht, wo die beiden untergebracht waren, vielleicht bei Busse. Ich sprach sieauf Französisch an. Henri, der Ältere, war ein stämmiger, kräftiger Bauer von etwa vierzig Jahren, der aus dem Lubéron kam, er kannte Antibes; der andere stammte vermutlich aus einer Provinzstadt und sah noch jung aus. Auch sie machten sich Sorgen, sie waren gekommen, um anzukündigen, dass auch sie aufbrechen wollten, wenn alle anderen aufbrachen. »Verstehen Sie, Monsieur l’officier , wir mögen die Bolschewisten genauso wenig wie Sie. Das sind Wilde, wir wissen nicht, was wir von ihnen zu erwarten haben.« – »Wenn Herr Busse aufbricht, können Sie mit ihm gehen. Ich halte Sie nicht.« Ihre Erleichterung war unübersehbar. »Danke, Monsieur l’officier . Unsere Empfehlungen an Monsieur le baron et Madame , wenn Sie sie sehen.«
    Wenn ich sie sehe? Die Vorstellung erschien mir fast komisch; gleichzeitig war mir der Gedanke vollkommen unerträglich, dass ich meine Schwester möglicherweise nicht mehr sehen sollte: Es war im eigentlichen Sinne des Wortes undenkbar . Am Abend schickte ich Käthe früh fort und trug mir das Essen selbst auf, zum

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