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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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dritten Mal zelebrierte ich in diesem großen, von Kerzenlicht erhellten Saal mein einsames Mahl, und während ich aß und trank, wurde ich von einer peinigenden Phantasmagorie gepackt, der kranken Vision einer vollkommenen koprophagen Autarkie. Ich stellte mir vor, ich wäre allein mit Una in diesem Herrenhaus eingeschlossen, auf immer von der Welt isoliert. Jeden Abend zogen wir unsere schönste Kleidung an, Anzug und Seidenhemd für mich, eng anliegendes Abendkleid mit Rückenschlitz für sie, in der Wirkung durch einen schweren, fast barbarischen Silberschmuck verstärkt, und wir setzten uns zu einem eleganten Abendessen an diesen Tisch mit seiner Spitzendecke, den Kristallgläsern, einem Silberbesteck mit unserem Wappen, Tellern aus Sèvres-Porzellan und Leuchtern aus massivem Silber, in denen lange weiße Kerzen steckten; in den Gläsern unser eigener Urin, auf den Tellern schöne blassefeste Kothaufen, die wir ruhig mit einem kleinen Silberlöffel verspeisten. Wir wischten uns die Lippen mit unseren monogrammierten Batistservietten ab, wir tranken, und als wir das Essen beendet hatten, gingen wir in die Küche, um das Geschirr eigenhändig abzuwaschen. So genügten wir uns selbst, ohne etwas zu verlieren und ohne Spuren zu hinterlassen, rein. Diese irrwitzige Vision flößte mir für den Rest der Mahlzeit eine schreckliche Angst ein. Ich ging in Unas Zimmer hinauf, um einen Kognak zu trinken und zu rauchen. Die Flasche war fast leer. Ich betrachtete den Sekretär, der wieder geschlossen war, das unangenehme Gefühl verließ mich nicht, ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber vor allem wollte ich den Sekretär nicht öffnen. Ich machte den Schrank auf und musterte die Kleider meiner Schwester, wobei ich tief einatmete, um den Geruch aufzusaugen, den sie ausströmten. Ich nahm eines heraus, ein schönes Abendkleid aus feinem Stoff, schwarz und grau mit Silberfäden. Vor dem Spiegel hielt ich mir das Kleid vor den Körper und deutete, ganz ernst, einige weibliche Gesten an. Doch sofort bekam ich es mit der Angst zu tun und hängte das Kleid wieder in den Schrank, voller Ekel und Scham: Was für ein Spiel spielte ich da? Mein Körper war nicht der ihre und würde es niemals sein. Gleichzeitig konnte ich mich nicht zurückhalten, ich hätte das Haus sofort verlassen müssen, aber ich konnte es nicht verlassen. Also setzte ich mich wieder aufs Sofa, leerte die Flasche Kognak und zwang mich, an die Bruchstücke der Briefe zu denken, die ich gerade gelesen hatte, an diese Rätsel ohne Ende und ohne Lösung: den Fortgang meines Vaters, den Tod meiner Mutter. Ich stand auf, holte die Briefe und setzte mich wieder, um noch einige zu lesen. Meine Schwester versuchte, mir Fragen zu stellen, sie fragte, wie ich hätte schlafen können, während unsere Mutter umgebracht wurde, und was ich empfunden hätte, als ich ihre Leiche sah, worüber wir am Tag zuvor gesprochen hätten. Ich wussteauf fast keine dieser Fragen eine Antwort. In einem Brief schrieb sie mir über den Besuch von Clemens und Weser: Instinktiv hatte sie gelogen, sie hatte nicht gesagt, dass ich die Leichen gesehen hatte, aber sie wollte wissen, warum ich gelogen hatte und woran ich mich tatsächlich erinnerte. Woran ich mich erinnerte? Ich wusste noch nicht einmal mehr, was eine Erinnerung war. Als Kind habe ich eines Tages eine Treppe erklommen, und noch heute, während ich schreibe, sehe ich mich ganz deutlich die grauen Stufen eines großen Mausoleums oder eines tief im Wald gelegenen Monuments erklimmen. Die Blätter waren rot, es musste Spätherbst gewesen sein, ich konnte den Himmel zwischen den Bäumen nicht sehen. Eine dicke Schicht aus totem Laub, rot, orange, braun und golden, bedeckte die Stufen, ich versank darin bis zu den Schenkeln, und die Stufen waren so hoch, dass ich die Hände zu Hilfe nehmen musste, um mich auf die nächste zu ziehen. In meiner Erinnerung bleibt diese ganze Szene mit einem beklemmenden Gefühl verbunden, die flammenden Farben der Blätter beängstigten mich, ich bahnte mir auf dieser für Riesen erbauten Treppe einen Weg durch die trockene, bröckelnde Masse, ich hatte Angst, ich dachte, ich würde darin versinken und verschwinden. Jahrelang glaubte ich, dieses Bild sei die Erinnerung an einen Traum, ein Traumbild aus der Kindheit, das sich in mir festgesetzt hätte. Doch eines Tages bin ich in Kiel, nachdem ich zum Studium dorthin zurückgekehrt war, zufällig auf diese Zikkurat gestoßen, ein kleines Totenmal aus

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