Die Wohlgesinnten
Granit, ich umrundete es, die Stufen waren nicht höher als andere – es war dieser Ort, es gab ihn. Natürlich muss ich sehr klein gewesen sein, als wir dorthin gegangen waren, deshalb waren mir die Stufen so hoch erschienen, aber nicht das hat mich aus der Fassung gebracht, sondern der Umstand, dass ich hier nach so vielen Jahren etwas in der Wirklichkeit vor mir sah, als konkretes und materielles Objekt, was ich immer in der Welt der Träumeangesiedelt hatte. Und mit all dem, worüber Una mit mir zu sprechen versuchte, in diesen unvollendeten Briefen, die sie nie an mich abgeschickt hatte, verhielt es sich genauso. Diese endlosen Gedanken hatten scharfe Kanten und Ecken, an denen ich mich böse riss und stieß, an den Flurwänden dieses kalten und bedrückenden Hauses rannen die Fetzen meiner Gefühle blutig herab, ein junges, gesundes Hausmädchen hätte das alles mit viel Wasser abwaschen müssen, aber es gab kein Hausmädchen mehr. Ich räumte die Briefe in den Sekretär, ließ die leere Flasche und das Glas dort und ging im Nebenzimmer zu Bett. Aber kaum hatte ich mich hingelegt, stürmten wieder obszöne, perverse Bilder auf mich ein. Ich stand auf und betrachtete meinen nackten Körper beim flackernden Licht einer Kerze im Spiegel des Kleiderschranks. Ich berührte meinen flachen Bauch, meinen steifen Schwanz, meinen Hintern. Mit den Fingerspitzen streichelte ich die Haare im Nacken. Dann blies ich die Kerze aus und legte mich wieder hin. Doch diese Gedanken ließen sich nicht vertreiben, sie kamen aus den Ecken des Zimmers wie wütende Hunde hervor und stürzten sich auf mich, um mich zu beißen und meinen Leib zu entflammen, Una und ich tauschten unsere Kleidung, nackt bis auf die Strümpfe, schlüpfte ich in ihr langes Kleid, während sie sich in meine Uniform zwängte und ihr Haar hochsteckte, das sie unter meine Mütze stopfte, dann setzte sie mich vor die Frisierkommode und schminkte mich sorgfältig, kämmte mir das Haar nach hinten, malte meine Lippen rot an, tuschte die Wimpern, puderte meine Wangen, tupfte mir ein paar Tropfen Parfüm auf den Hals, lackierte mir die Nägel, und als das getan war, tauschten wir genauso brutal die Rollen, sie bewehrte sich mit einem Phallus aus geschnitztem Ebenholz und nahm mich wie ein Mann, vor ihrem großen Spiegel, der das Bild unserer wie Schlangen ineinander verflochtenen Leiber ungerührt zurückwarf, sie hatte den Phallus mit ColdCream eingerieben, und der scharfe Geruch stach mir in die Nase, während sie sich meiner wie einer Frau bediente, bis sich jeder Unterschied verflüchtigte und ich ihr sagte: »Ich bin deine Schwester und du bist mein Bruder«, und sie: »Du bist meine Schwester und ich bin dein Bruder.«
Tagelang bissen diese verwirrenden Vorstellungen an mir herum wie überdrehte junge Hunde. Diese Gedanken und ich standen uns wie zwei Magneten gegenüber, bei denen eine geheimnisvolle Kraft ständig die Polaritäten umkehrt: Wenn wir uns anzogen, veränderten sie die ihre, damit wir uns abstießen; doch kaum hatten wir zu dieser Bewegung angesetzt, trat ein neuer Wechsel ein, und wir zogen uns wieder an, das Ganze ging sehr schnell, sodass wir uns in rascher Schwingung befanden, diese Gedanken und ich, in einer fast konstanten Entfernung, genauso unfähig, uns näher zu kommen, wie uns voneinander zu entfernen. Draußen schmolz der Schnee, der Boden wurde schlammig. An einem Tag kam Käthe, um mir zu sagen, dass sie fortgehe; offiziell blieb die Evakuierung verboten, aber sie hatte eine Cousine in Niedersachsen, bei der wollte sie wohnen. Auch Busse erschien noch einmal, um sein Angebot zu wiederholen: Er war gerade zum Volkssturm eingezogen worden, wollte aber seine Familie fortschicken, bevor es zu spät war. Er bat mich, in Vertretung für von Üxküll seine Abrechnung mit ihm durchzusehen, ich lehnte es aber ab und verabschiedete ihn, nicht ohne ihn zu bitten, die beiden Franzosen mit seiner Familie fortzuschicken. Als ich an der Straße entlangging, war wenig Verkehr; doch in Alt Draheim bereiteten sich vorsichtige Bewohner unauffällig auf den Aufbruch vor; sie leerten ihre Vorratskammern und verkauften mir zu günstigen Preisen Lebensmittel. Auf dem Land war es ruhig, kaum dass man von Zeit zu Zeit hoch oben am Himmel ein Flugzeug hörte. Doch eines Tages, als ich mich gerade im ersten Stock aufhielt, bog ein Fahrzeug in die Allee ein. Hinter dem Vorhangversteckt, sah ich es aus einem der Fenster; als es näher kam, erkannte ich ein
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