Die Wohlgesinnten
maßlose Angst der Frauen zu verstehen. Und wenn die Kinder erst geboren sind, muss es noch schlimmer sein, weil dann die ständige Angst beginnt, der Schrecken, der die Frau Tag und Nacht heimsucht und der erst mit ihr selbst oder mit ihnen endet. Ich sah das Bild dieser Mütter vor mir, die ihre Kinder an sich drückten, als sie erschossen wurden, ich sah diese ungarischen Jüdinnen auf ihren Koffern sitzen, schwangere Frauen und junge Mädchen, die auf den Zug und das Gas am Ende der Reise warteten, das musste es gewesen sein, was ich bei ihnen gesehen hatte, das, von dem ich mich niemals hatte befreien und das ich niemals hatte ausdrücken können, diese Angst, nicht ihre offen gezeigte Angst vor den Gendarmen und den Deutschen, vor uns, sondern die stumme Angst, die in ihnen lebte, in der Zerbrechlichkeit ihrer Körper und ihres zwischen ihre Beine geschmiegten Geschlechts, diese Zerbrechlichkeit, die wir uns anschickten zu zerstören, ohne sie jemals gesehen zu haben.
Es herrschten fast milde Temperaturen. Ich hatte einen Stuhl auf die Terrasse gestellt und blieb dort stundenlang, las oder lauschte, wie der Schnee in dem abschüssigen Garten schmolz, beobachtete, wie die beschnittenen Büsche wieder sichtbar wurden und ihre Gegenwart wieder geltend machten. Ich las Flaubert, und wenn ich vorübergehend des grand trottoir roulant , des »großen Laufbands« seiner Prosa, überdrüssigwurde, auch Verse, die aus dem Altfranzösischen übersetzt waren und mich manchmal vor Überraschung laut auflachen ließen: Hab eine Freundin, weiß nicht, wer sie ist / Hab sie nie gesehen, bei meiner Ehr. Ich fühlte mich unbeschwert, wie auf einer verlassenen Insel, abgeschnitten von der Welt; und wenn ich wie im Märchen das Gut mit einer unsichtbar machenden Mauer hätte umgeben können, wäre ich dort auf immer geblieben, um nahezu glücklich auf die Rückkehr meiner Schwester zu warten, während Trolle und Bolschewisten in das Land rundherum eingefallen wären. Denn wie den fürstlichen Dichtern des Spätmittelalters war mir der Gedanke an die Liebe einer Frau, die auf einer fernen Burg (oder in einem Schweizer Sanatorium) eingeschlossen war, vollkommen genug. Mit heiterer Gelassenheit stellte ich sie mir vor, genau wie ich auf einer Terrasse sitzend, hohen Bergen statt eines Waldes zugewandt, ebenfalls allein (weil ihr Mann sich einer Kur unterzog) und ähnliche Bücher lesend wie ich, die sie aus ihrer Bibliothek mitgenommen hatte. Die frische Höhenluft griff sicherlich ihre Lippen an, vielleicht hatte sie sich zum Lesen in eine Decke gewickelt, doch da war noch ihr Körper mit seiner Schwere und Präsenz. Als wir Kinder waren, fielen unsere mageren Körper übereinander her, schlugen rasend aneinander, aber sie waren wie zwei Käfige aus Haut und Knochen, die unsere Gefühle daran hinderten, sich nackt zu berühren. Wir hatten noch nicht begriffen, in welchem Maße die Liebe in den Körpern lebt, sich in ihren verborgensten Winkeln einnistet, selbst in ihrer Ermüdung und Schwere. Ganz genau stellte ich mir den Körper der lesenden Una vor, wie er sich dem Stuhl anpasste, ich malte mir die Krümmung ihres Rückgrats aus, ihres Nackens, das Gewicht ihrer übereinandergeschlagenen Beine, den Laut ihrer fast unhörbaren Atmung, und selbst der Gedanke an den Schweiß in ihren Achselhöhlen begeisterte mich, riss mich in einen Taumel des Entzückens, dermein eigenes Fleisch auslöschte und mich in reine, zum Reißen gespannte Aufmerksamkeit verwandelte. Doch solche Augenblicke konnten nicht andauern: Langsam tropfte das Wasser von den Bäumen, und da unten, in der Schweiz, stand sie auf, schob die Decke zurück, ging in den Gemeinschaftsraum und ließ mich mit meinen Schimären sitzen, meinen finsteren Schimären, die sich, während ich meinerseits in ihr Haus zurückging, dessen Architektur anpassten und sich je nach der Anordnung der Zimmer entfalteten, die ich bewohnte, mied oder, wie im Falle ihres Schlafzimmers, eigentlich meiden wollte, es aber nicht vermochte. Ich hatte endlich die Tür zu ihrem Badezimmer aufgestoßen. Es war das geräumige Badezimmer einer Frau, mit einer großen Badewanne aus Porzellan, einem Bidet, einer Toilette im hinteren Teil. Ich ließ die Hände über die Parfümfläschchen gleiten, betrachtete mich bitter im Spiegel über dem Waschbecken. Wie ihr Zimmer war auch das Badezimmer frei von Gerüchen, so tief ich auch die Luft einsog, ich konnte nichts riechen, Käthe hatte gründlich geputzt.
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