Die Wohlgesinnten
sie war noch jung, hatte sie das erlebt, bevor wir sie aufhängten, mit welchem Recht hatten wir sie aufgehängt, wie konnten wir dieses Mädchen aufhängen, und ich vermochte nicht mit dem Schluchzen aufzuhören, unendlich traurig gestimmt durch die Erinnerung an sie, meine Notre-Dame-des-Neiges, Unsere Liebe Frau vom Schnee, das waren keine Schuldgefühle, ich hatte keine Schuldgefühle, ich fühlte mich nicht verantwortlich, ich glaubte nicht, dass die Dinge anders hätten sein können oder müssen, ich verstand nur,was es hieß, ein junges Mädchen zu erhängen, wir hatten sie erhängt, wie ein Schlachter einem Rind die Kehle durchschneidet, gleichmütig, weil es getan werden musste, weil sie eine Dummheit gemacht hatte und die mit ihrem Leben bezahlen musste, so waren die Spielregeln, unsere Spielregeln, aber die, die wir aufgehängt hatten, war kein Schwein und kein Rind, das wir töten, ohne darüber nachzudenken, weil wir sein Fleisch essen, sie war eine junge Frau, die einmal ein kleines Mädchen gewesen war, vielleicht glücklich, die damals in das Leben getreten war, in ein Leben voller Mörder, denen sie nicht ausweichen konnte, ein Mädchen, das in gewisser Weise wie meine Schwester war, vielleicht jemandes Schwester, wie ich jemandes Bruder war, und für solche Grausamkeit gibt es keinen Namen, gleich, wie die objektive Notwendigkeit gewesen sein mochte, sie zerstörte alles, wer so etwas tun konnte, ein junges Mädchen wie dieses aufhängen, der konnte alles tun, da gab es keinerlei Gewähr mehr, meine Schwester konnte heute fröhlich in eine Toilette pissen und morgen, sich entleerend, am Ende eines Stricks verröcheln, das hatte nicht den geringsten Sinn, und deshalb weinte ich, ich verstand nichts mehr, und ich wollte allein sein, um nichts mehr zu verstehen.
Ich wachte in Unas Bett auf. Ich war immer noch nackt, aber mein Körper war sauber und meine Beine frei. Wie war ich dorthin gekommen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Der Ofen war ausgegangen, und ich fror. Leise, töricht, sprach ich den Namen meiner Schwester aus: »Una, Una.« Das Schweigen ließ mich erstarren und zittern, aber vielleicht war es auch die Kälte. Ich stand auf: Draußen dämmerte der Tag, der Himmel war wolkenverhangen, das Licht aber schön, der Nebel hatte sich aufgelöst, und ich betrachteteden Wald, die Bäume mit ihren noch schneebeladenen Ästen. Einige absurde Verse kamen mir in den Sinn, ein altes Lied von Wilhelm IX., diesem unsteten Herzog von Aquitanien:
Ich will einen Vers aus reinem Nichts machen:
Nicht über mich noch über andere,
Nicht über die Liebe noch über die Jugend,
Noch über etwas anderes.
Ich richtete mich auf und ging in die Ecke, wo einige meiner Kleidungsstücke auf einem Haufen lagen, fuhr in eine Hose und zog die Hosenträger über meine nackten Schultern. Als ich am Schlafzimmerspiegel vorbeikam, betrachtete ich mich: Ein dicker roter Striemen zog sich über meine Kehle. Ich ging hinunter; in der Küche biss ich in einen Apfel und trank etwas Wein aus einer offenen Flasche. Brot war nicht mehr da. Ich trat auf die Terrasse hinaus: Es war noch kühl, ich rieb mir die Arme. Mein gereizter Schwanz tat mir weh, die Wollhose machte es noch schlimmer. Ich sah meine Finger, meinen Unterarm an, spielerisch versuchte ich, mit der Spitze des Nagels die dicken blauen Venen auf meinem Handgelenk zu leeren. Meine Nägel waren schmutzig, der des linken Daumens abgebrochen. Auf der anderen Seite des Hauses, im Hof, krächzten Vögel. Die Luft war frisch, beißend, der Schnee auf dem Boden war angetaut und an der Oberfläche wieder verharscht, die Spuren, die meine Schritte und mein Körper auf der Terrasse hinterlassen hatten, waren noch gut zu sehen. Ich ging bis zur Brüstung und beugte mich hinüber. Eine Frauenleiche lag im Schnee des Gartens, halb nackt unter ihrem leicht geöffneten Morgenrock, den Kopf abgeknickt, die offenen Augen zum Himmel gerichtet. Zart ruhte ihre Zunge im Winkel ihrer bläulichen Lippen; zwischen ihren Beinen, auf ihrem Geschlecht spross schonwieder ein schattenhafter Flaum, er würde eine Zeitlang hartnäckig weiterwachsen. Es verschlug mir den Atem: Diese Leiche im Schnee war das Spiegelbild des toten Mädchens in Charkow. Und da wusste ich, dass die Leiche dieser jungen Frau, dass ihr verrenkter Hals, ihr vorspringendes Kinn, ihre vereisten und angenagten Brüste nicht, wie ich geglaubt hatte, die blinde Spiegelung eines einzigen Bildes war, sondern
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