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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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anzuhalten, und wandten uns wieder nach Norden. »Die können doch Tempelburg noch nicht genommen haben!«, schimpfte Thomas. »Da sind wir doch erst vor zwei Stunden durchgefahren!« – »Vielleicht sind sie querfeldein dran vorbeigestoßen«, mutmaßte Piontek. Thomas musterte eine Karte: »Gut, fahren Sie bis Bad Polzin. Dort erkundigen wir uns. Selbst wenn Stargard gefallen ist, können wir nach Schivelbein und Naugard und dann nach Stettin.« Ich achtete nicht weiter auf seine Worte, ich sah mir durch das geborstene Fenster, aus dem ich die letzten Splitter entfernt hatte, die Landschaft an. Hohe Pappeln säumten in größeren Abständen die lange gerade Straße, dahinter erstreckten sich stille verschneite Felder, am grauen Himmel flatterten ein paar Vögel, einsame Gehöfte, verschlossen und stumm. In Klaushagen, einige Kilometer weiter, einem sauberen kleinen Dorf, öde und ehrenwert, versperrte ein Posten des Volkssturms, Männer in Zivil mit Armbinden, Bauern, die Straße zwischen einem kleinen See und einem Wald. Ängstlich erkundigten sie sich nach der Lage: Thomas riet ihnen, mit ihren Familien nach Polzin aufzubrechen,aber sie zögerten, zwirbelten ihre Schnurrbärte und hantierten mit ihren alten Gewehren und den beiden Panzerfäusten, die man ihnen zugeteilt hatte. Einige hatten sich ihre Orden aus dem Ersten Weltkrieg an die Jacken geheftet. Die Schupos in flaschengrünen Uniformen, die sie flankierten, schienen sich nicht wohler in ihrer Haut zu fühlen, die Männer palaverten mit der Umständlichkeit von Gemeinderäten, vor Angst einen fast feierlichen Ton anschlagend.
    Am Ortseingang von Bad Polzin schien die Verteidigung besser organisiert zu sein. Die Waffen-SS bewachte die Straße, und eine Pak, die auf einer Anhöhe in Stellung gebracht worden war, beherrschte den Zugang. Thomas verließ den Wagen, um mit dem Befehlshabenden, einem Untersturmführer, zu reden, doch der wusste nichts und verwies uns an seinen Vorgesetzten in der Stadt, im Stab, der im alten Schloss untergebracht war. Pkws und Fuhrwerke blockierten die Straßen, die Stimmung war gespannt, Mütter schrien nach ihren Kindern, Männer zerrten wütend an den Zügeln und beschimpften die französischen Landarbeiter, die Matratzen und Säcke mit Lebensmitteln aufluden. Ich folgte Thomas zum Stab und blieb hinter ihm, um mitzuhören. Der Obersturmführer wusste auch nicht viel; seine Einheit war dem X. SS-Korps zugeteilt worden, man hatte ihn an der Spitze einer Kompanie hierhergeschickt, um die Durchgangsstraßen zu halten; und er glaubte, die Russen würden von Süden oder Osten kommen – die 2. Armee im Raum Danzig/Gotenhafen sei bereits vom Reichsgebiet abgeschnitten, die Russen seien auf der Straße Neustettin–Köslin zur Ostsee durchgebrochen, das sei so gut wie sicher –, doch die Wege nach Westen hielt er noch für frei. Wir nahmen die Straße nach Schivelbein. Das war eine gepflasterte Chaussee, die langen Reihen der Flüchtlingsfuhrwerke nahmen eine ganze Straßenseite ein, ein beständiger Abfluss, der gleiche traurige Anblick wie einen Monat zuvor auf der Autobahn von Stettinnach Berlin. Langsam, im Schritttempo der Pferde, leerte sich Ostdeutschland. Es gab kaum militärischen Verkehr, aber viele Soldaten maschierten, bewaffnet und unbewaffnet, unter den Zivilisten, Rückkämpfer , die wieder Anschluss an ihre alten oder an neue Einheiten suchten. Es war kalt, ein heftiger Wind pfiff durch die kaputte Scheibe des Fahrzeugs und führte nassen Schnee mit sich. Hupend überholte Piontek die Fuhrwerke, Menschen zu Fuß, Pferde und Vieh verstopften die Straße und machten nur langsam Platz. Wir kamen an Feldern vorbei, dann führte die Straße wieder durch einen Tannenwald. Vor uns stoppten die Fuhrwerke, große Aufregung, ich hörte einen fürchterlichen, nicht näher zu identifizierenden Lärm, die Menschen schrien und liefen auf den Wald zu. »Die Russen!«, brüllte Piontek. »Raus, sofort raus!«, befahl Thomas. Ich sprang mit Piontek links hinaus: Zweihundert Meter vor uns rückte ein Panzer schnell in unsere Richtung vor, er zermalmte dabei Fuhrwerke, Pferde und Nachzügler. Entsetzt rannte ich mit Piontek und Zivilisten in die Deckung des Waldes; Thomas hatte die Kolonne durchquert und war zur anderen Seite davongelaufen. Die Fuhrwerke zerbrachen unter den Panzerketten wie Streichhölzer; die Pferde starben unter grauenhaftem Gewieher, das ein metallisches Klirren abrupt beendete: Unser Wagen wurde frontal erfasst,

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