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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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zurückkehren. In dieser Nacht überquerten wir die Bahnstrecke zwischen Treptow und Kolberg, dann die Straße nach Deep, wo wir eine Stunde lang warteten, bis eine sowjetische Kolonne uns passiert hatte. Jenseits der Straße waren wir praktisch ungedeckt, aber es gab da kein Dorf, wir folgten kleinen einsamen Wegen in der Schleife der Rega und näherten uns dem Fluss. Der Wald wurde vor uns in der Dunkelheit sichtbar, eine große schwarze Mauer vor der hellen Wand der Nacht. Wir konnten das Meer schon riechen. Aber wir sahen keine Möglichkeit, den Fluss zu überqueren, der zur Mündung hin immer breiter wurde. Statt umzukehren, setzten wir den Weg in Richtung Deep fort. Den Ort meidend, in dem die Russen schliefen, tranken und sangen, stiegen wir zum Strand und den Kureinrichtungen hinab. Ein sowjetischer Wachposten schlief auf einem Liegestuhl, und Thomas erschlug ihn mit dem Metallschaft eines Gartenschirms; der Lärm der Brandung verschluckte die Geräusche. Piontek sprengte die Kette, die die Tretboote sicherte. Über die Ostsee wehte ein eiskalter Wind, an der Küste entlang, von West nach Ost, das dunkle Wasser war heftig bewegt; wir zogen das Tretboot über den Sand zur Flussmündung; dort war es ruhiger, mit einer plötzlichen Anwandlung von Freude fuhr ich aufs Wasser hinaus; beim Pedalentreten fühlte ich mich an die Sommer am Strand von Antibes oder Juan-les-Pins erinnert, wo meine Schwester und ich Moreau anbettelten, für uns ein Tretboot zu mieten, dann waren wir allein aufs Meer hinausgefahren, so weit uns unsere kleinen Beine brachten, bevor wir uns glücklich in der Sonne treiben ließen. Wir kamen ziemlich rasch hinüber, Thomas und ich traten mit aller Kraft, während Piontek, mit der Waffe zwischen uns liegend, das Ufer im Auge behielt; am anderen Ufer ließ ich unser Gefährt fast mit Bedauern zurück. Der Wald grenzte dicht ans Wasser, kleine geduckte Bäume der verschiedenstenArt, gebeugt vom Wind, der unentwegt über diese lange triste Küste fegt. Es ist nicht leicht, in solchen Wäldern zu gehen: Es gibt kaum Wege, junge Schösslinge, vor allem Birken, wachsen zwischen den Bäumen, sodass man sich den Weg erst bahnen muss. Der Wald erstreckte sich bis zum Sandstrand und überragte das Meer, direkt an der Flanke der großen Dünen, die sich unter dem Druck des Windes zwischen die Bäume ergossen und sie bis zur halben Höhe begruben. Hinter dieser Barriere toste ununterbrochen die unsichtbare Meeresbrandung. Wir gingen bis zum Morgengrauen; nach einiger Zeit wieder vorwiegend Kiefern, zwischen denen wir rascher vorankamen. Als der Himmel hell wurde, kletterte Thomas auf eine Düne, um den Strand zu überblicken. Ich folgte ihm. Eine nicht abreißende Linie von Trümmern und Leichen bedeckte den kalten blassen Sand, Fahrzeugwracks, aufgegebene Geschütze, umgestürzte und zerbrochene Fuhrwerke. Die Leichen lagen dort, wo sie gefallen waren, auf dem Sand oder mit dem Kopf im Wasser, halb von weißem Schaum bedeckt, andere schwammen weiter draußen, von den Wellen geschaukelt. Das Meerwasser erschien schwer, fast schmutzig gegen diesen hellen Strand, graugrün wie Blei, hart und freudlos. Große Möwen flogen dicht über den Sand oder schwebten über der grollenden Dünung, dem Wind zugekehrt, wie aufgehängt, bevor sie mit einem exakten Flügelschlag abdrehten. Wir stürzten die Dünen hinab, um einige Leichen nach Nahrung zu durchsuchen. Unter den Toten war alles vertreten: Soldaten, Frauen, Kleinkinder. Wir fanden aber nicht viel Essbares und beeilten uns, in den Wald zurückzukommen. Sobald ich den Strand verlassen hatte, umfing mich wieder die Stille des Waldes, nur der Lärm der Brandung und des Windes klang in meinem Kopf nach. Ich wollte auf der Rückseite der Düne schlafen, der kalte harte Sand lockte mich, doch Thomas fürchtete die Patrouillen, er zog mich tiefer in den Wald hinein. Ich schlief einige Stundenauf Kiefernnadeln, dann las ich bis zum Abend mein Buch, das seine Form immer mehr verlor, und täuschte meinen Hunger mit den opulenten Beschreibungen der Festbankette zur Zeit des Bürgerkönigs. Thomas gab dann das Zeichen zum Aufbruch. Nach zweistündigem Marsch erreichten wir den Waldrand, der sich in geschwungener Linie an einem kleinen Strandsee entlangzog. Er war von der Ostsee durch eine grüne sandige Nehrung getrennt, die von hübschen verlassenen Sommerhäusern bestanden war und als langer, mit Trümmern übersäter Sandstrand sanft bis zum Meer abfiel. Wir

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