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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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wichen wir zurück und tauchten wieder in den Wald ein. »Wir müssen zurück über die Persante«, flüsterte Thomas mit angespannter, in der Finsternis und dem Schnee körperloser Stimme. »Kolberg können wir vergessen. Wir müssen wohl bis zur Oder.« Aber der Kahn war verschwunden, und wir mussten eine Weile gehen, bis wir eine Furt fanden, die durch Pfähle und eine Art unter Wasser liegendem Steg auszumachen war, an dem, mit einem Fuß verhakt, die Leiche eines französischen Waffen-SS-Mannes hing. Das kalte Wasser ging uns bis zu den Oberschenkeln, ich hielt mein Buch in der Hand, um ihm ein erneutes Bad zu ersparen; große Flocken fielen ins Wasser, verschwanden augenblicklich darin. Wir hatten unsere Stiefel ausgezogen, doch unsere Hosen blieben die ganze Nacht hindurch nass und kalt, auch noch am Morgen, als wir uns alle drei in einer Forsthütte tief im Wald schlafen legten, ohne Wachen eingeteilt zu haben. Wir waren seit fast sechsunddreißig Stunden marschiert und erschöpft; und jetzt würden wir noch weiter marschieren müssen.
     
     
    Wir gingen nachts; tagsüber verbargen wir uns im Wald; dann schlief ich oder las Flaubert, ich sprach wenig mit meinenKameraden. Eine ohnmächtige Wut stieg in mir auf, ich verstand nicht, warum ich das Haus nahe Alt Draheim verlassen hatte und nahm es mir übel, dass ich mich hatte bewegen lassen fortzugehen, nur um jetzt wie ein Wilder in den Wäldern umherzuirren, statt ruhig dort geblieben zu sein. Unsere Gesichter waren von Bärten überwuchert, unsere Uniformen steif vom getrockneten Schlamm und unsere Beine unter dem rauen Gewebe von Krämpfen gepeinigt. Wir aßen schlecht, es gab nur das, was sich in den verlassenen Gehöften und zertrümmerten Flüchtlingstrecks fand; ich beklagte mich nicht, aber ich fand rohen Speck widerlich, das Fett blieb mir lange im Mund kleben, und niemals war Brot da, mit dem man es hätte hinunterwürgen können. Ständig froren wir und machten kein Feuer. Trotzdem mochte ich diese gesetzte, ruhige Landschaft, das freundliche Schweigen der Birken- und Hochwälder, den grauen, vom Wind kaum bewegten Himmel, das gedämpfte Knirschen des letzten Schnees. Aber es war eine tote, verlassene Gegend: Leer waren die Felder und leer die Gehöfte. Überall hatten die Verwüstungen des Krieges ihre Spuren hinterlassen. Alle größeren Ortschaften, die wir bei Nacht weiträumig umgingen, waren von Russen besetzt; in ihrer Umgebung hörten wir im Dunkeln die betrunkenen Soldaten singen und Salven in die Luft abgeben. Manchmal waren noch Deutsche in diesen Dörfern, ihre ängstlichen, demütigen Stimmen waren zwischen den russischen Ausrufen und Flüchen deutlich zu vernehmen, häufig ertönten Schreie, vor allem Schreie von Frauen. Aber das war nicht so schlimm wie die brennenden Dörfer, in die uns der Hunger trieb: Das verendete Vieh verpestete die Straßen, aus den Häusern drang Brand- und Leichengeruch, und da wir hineinmussten, um etwas zu essen zu suchen, konnten wir den Anblick der Frauenleichen mit verrenkten Gliedern nicht vermeiden, sie waren häufig entkleidet, selbst alte Frauen oder Mädchen von zehn Jahren,und hatten Blut zwischen den Beinen. Doch auch im Wald blieben uns die Toten nicht erspart: An den Wegkreuzungen trugen die riesigen Äste der jahrhundertealten Eichen ganze Trauben von Erhängten, meist Angehörigen des Volkssturms, beklagenswerten Opfern übereifriger Feldgendarmen; die Lichtungen waren mit Leichen übersät, wie dieser nackte junge Mann, der mit einem angewinkelten Bein im Schnee lag, so anmutig wie der Gehängte auf der zwölften Karte des Tarotspiels, erschreckend in seiner Fremdheit; noch tiefer in den Wäldern verunreinigten Leichen die bleichen Weiher, an denen wir vorbeikamen und unseren Durst unterdrücken mussten. Wir trafen in diesen Gehölzen und Wäldern aber auch Lebende, völlig verängstigte Zivilisten, nicht in der Lage, uns irgendwelche Informationen zu geben, versprengte Soldaten oder Trupps, die wie wir versuchten, sich durch die russischen Linien zu schmuggeln. Egal ob Männer der Waffen-SS oder der Wehrmacht, nie wollten sie mit uns zusammenbleiben; offenbar hatten sie Angst, im Falle einer Gefangennahme in Begleitung hoher SS-Offiziere angetroffen zu werden. Das gab Thomas zu denken, er bestand darauf, dass wir unsere SS-Soldbücher zerrissen, unsere Papiere vernichteten und unsere Rangabzeichen abtrennten, für den Fall, dass wir den Russen in die Hände fielen; doch aus Angst vor den

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