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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Feldgendarmen beschloss er, ziemlich unlogisch, dass wir unsere schönen grauen Uniformen behalten sollten, nicht ganz passend für diese Gegend. All diese Entscheidungen traf er ganz allein; ich nahm sie hin, ohne nachzudenken, vollkommen unzugänglich für alles andere als das, was mir im Zuge unseres langsamen Marsches direkt vor Augen kam.
    Wenn etwas eine Reaktion in mir wachrief, war es noch schlimmer. In der zweiten Nacht nach Körlin kamen wir im Morgengrauen in eine kleine Ortschaft, einige Gehöfte, die um ein Herrenhaus lagen. Etwas abseits stand eine Kirche,ein Ziegelbau mit spitzem Glockenturm und grauem Schieferdach; die Tür stand offen, Orgelmusik drang heraus; Piontek war schon unterwegs, um die Küchen zu durchsuchen; ich betrat, von Thomas gefolgt, die Kirche. Ein alter Mann spielte in der Nähe des Altars Die Kunst der Fuge , die dritte Fuge, glaube ich, mit dem schönen Grollen des Basses, der auf der Orgel dem Pedal überlassen bleibt. Ich trat näher, setzte mich auf eine Bank und hörte zu. Der Alte beendete sein Stück und drehte sich zu mir um: Er trug ein Monokel, einen kleinen weißen, sauber gestutzten Schnurrbart und die Uniform eines Oberstleutnants aus dem ersten Krieg mit einem Kreuz um den Hals. »Sie können alles vernichten«, sagte er ruhig zu mir, »aber das nicht. Es ist unmöglich, das wird immer bleiben: auch wenn ich aufhöre zu spielen.« Ich sagte nichts, und er begann die nächste Fuge. Thomas war stehen geblieben. Ich erhob mich ebenfalls. Ich lauschte. Die Musik war herrlich, die Orgel hatte keinen großen Ton, klang aber hübsch in dieser kleinen Familienkapelle, die Linien der Fuge kreuzten sich, spielten und tanzten miteinander. Doch statt mich zu beruhigen, schürte diese Musik meine Wut nur noch mehr, ich fand das Ganze unerträglich. Ich dachte an nichts, mein Kopf war leer, bis auf diese Musik und den schwarzen Druck meiner Wut. Ich wollte dem alten Mann zurufen, dass er aufhören solle, aber ich ließ das Ende des Stücks verstreichen, und er begann sofort die nächste Fuge, die fünfte. Seine langen aristokratischen Finger flogen über die Klaviatur, zogen und schoben die Register. Als er sie am Ende der Fuge mit einem trockenen Stoß schloss, zog ich meine Pistole und schoss ihm eine Kugel in den Kopf. Er fiel nach vorn über die Tasten und öffnete einige Pfeifen zu einem traurigen und misstönenden Aufheulen. Ich steckte meine Pistole ein, trat näher und zog ihn am Kragen nach hinten; der Ton erstarb, es war nur noch zu hören, wie das Blut aus seinem Kopf auf die Steinplatten tropfte. »Bist du vollkommen verrücktgeworden?«, zischte Thomas. »Was fällt dir ein!?« Ich blickte ihn kalt an, ich war bleich, aber meine Stimme zitterte nicht, als ich abgehackt hervorstieß: »Wegen dieser korrupten Junker verliert Deutschland den Krieg. Der Nationalsozialismus geht zugrunde, und sie spielen Bach. Das darf doch nicht sein!« Thomas musterte mich, wusste aber nicht, was er sagen sollte. Dann zuckte er die Achseln: »Vielleicht hast du Recht. Aber lass das in Zukunft. Gehen wir.« Auf dem großen Hof wartete Piontek, der sich wegen des Schusses Sorgen gemacht hatte und seine Maschinenpistole im Anschlag hielt. Ich schlug vor, dass wir im Herrenhaus schliefen, in richtigen Betten mit sauberer Wäsche; aber Thomas trug mir den Vorfall wohl noch nach und entschied, dass wir im Wald schliefen. Um mich zu ärgern, denke ich. Aber ich wollte mich nicht wieder aufregen, außerdem war er mein Freund; ich gehorchte, ich folgte ihm, ohne zu protestieren.
     
    Das Wetter schlug um, plötzlich wurde es milder; kaum war die Kälte verschwunden, wurde es augenblicklich warm, und ich schwitzte fürchterlich in meinem Mantel, die schwere Erde der Äcker klebte mir an den Schuhen. Wir hielten uns nördlich der Straße nach Plathe; unmerklich waren wir in dem Bestreben, offene Flächen zu meiden und im Schutz der Wälder zu bleiben, noch weiter nach Norden abgedriftet. Statt die Rega, wie beabsichtigt, in der Gegend von Greifenberg zu überqueren, erreichten wir sie bei Treptow, weniger als zehn Kilometer vom Meer entfernt. Zwischen Treptow und der Mündung war nach Thomas’ Karte das ganze linke Ufer sumpfig; aber an der Küste dehnte sich ein großer Wald aus, in dem wir ungefährdet bis Horst oder Rewahl marschieren könnten; wenn sich diese Seebäder noch in deutscher Hand befanden, könnten wir durch die Linien gelangen;wenn nicht, würden wir wieder ins Landesinnere

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