Die Wohlgesinnten
einzigen Nachrichten erhielten sie von Fahrern der Konvois, die auf der Rollbahn an die Front unterwegs waren; um sie herum erstreckte sich, flach und leer, die endlose Landschaft: Gibt es einen Menschen, der auf dieser Ebene lebt? singt der Held der russischen Geschichte. Gelegentlich begegneten wir einer dieser Einheiten, wenn wir mit einem Auftrag unterwegs waren, die Offiziere luden uns zum Essen ein, sie waren froh, uns zu sehen. Am 16. September vereinigte Guderian seine Panzer bei Lochwiza, hundertfünfzig Kilometer östlich von Kiew, mit der Panzergruppe Kleist und kesselte dadurch laut Angaben der Abwehr vier sowjetische Armeen ein; von Norden und Süden aus schickten sich Luftwaffe und Infanterie an, sie zu vernichten. Kiew stand weit offen. In Shitomir hatten wir Ende August die Tötung der Juden eingestellt und die Überlebenden in einem Getto zusammengepfercht; am 17. September verließ Blobel die Stadt mit seinen Offizieren, zwei Einheiten des Polizeiregiments Süd und unseren Askaris, sodass nur die Ordonnanzen, die Küche und das Kfz-Ersatzteillager zurückblieben. Der Kommandostab sollte sich so rasch wie möglich in Kiew einrichten. Doch am folgenden Tag änderte Blobel seine Meinung oder erhielt einen Gegenbefehl: Er kehrte nach Shitomir zurück, um das Getto zu vernichten. »Ihre unverschämte Haltung hat sich nicht verändert, trotz aller unserer Warnungen und Sondermaßnahmen. Wir können sie nicht in unserem Rücken zurücklassen.« Er bildete ein Vorkommando unter dem Befehl von Häfner und Janssen, das mit der 6. Armee in Kiew einmarschieren sollte. Ich meldete mich freiwillig, und Blobel war einverstanden.
In dieser Nacht kampierte das Vorkommando in einem kleinen verlassenen Dorf vor der Stadt. Das nervtötende Krächzen der Krähen draußen klang wie das Schreien hungriger Säuglinge. Als ich mich auf einen Strohsack in der Isba legte, die ich mit den anderen Offizieren teilte, verirrte sich ein kleiner Vogel, vielleicht ein Spatz, in den Raum und flog blind gegen die Wände und geschlossenen Fenster. Halb betäubt blieb er einige Sekunden liegen, atemlos, die Flügel überKreuz, dann tobte er wieder zu einer kurzen und nutzlosen Raserei herum. Er musste dem Tode nahe sein. Die anderen schliefen bereits oder reagierten nicht. Schließlich gelang es mir, ihn unter einem Stahlhelm einzufangen, draußen ließ ich ihn frei: Er schwirrte in die Nacht davon, als würde er aus einem Albtraum erwachen. Bei Tagesanbruch waren wir schon wieder unterwegs. Der Krieg war jetzt unmittelbar vor uns, wir kamen nur sehr langsam voran. Verstreut am Wegesrand lagen die schlaflosen Toten mit offenen leeren Augen. Der Ehering eines deutschen Soldaten glänzte in der frühen Morgensonne; sein Gesicht war rot und verquollen, Mund und Augen voller Fliegen. Zwischen den Menschen verendete Pferde, einige, durch Kugeln oder Granatsplitter verwundet, wieherten noch im Todeskampf, schlugen mit den Hufen in die Luft und wälzten sich rasend über die anderen Kadaver oder die Leichen ihrer Reiter. Nahe einer Behelfsbrücke trug die Strömung drei Soldaten an uns vorbei, von der Uferböschung aus waren einen langen Augenblick hindurch die durchtränkten Uniformen zu erkennen, die bleichen Gesichter der Ertrunkenen, die sich langsam entfernten. In den leeren, von ihren Bewohnern verlassenen Dörfern brüllten die Kühe mit geschwollenen Eutern vor Schmerz, verrückt gewordene Gänse schnatterten in den kleinen Gärten der Isbas zwischen Kaninchen, Hühnern und Hunden, die an ihren Ketten zum Hungertod verurteilt waren; die Häuser standen sperrangelweit offen, in ihrer Panik hatten die Menschen ihre Bücher, billigen Reproduktionen, Radios und Federbetten zurückgelassen. Dann kamen die Außenbezirke von Kiew, von den Kämpfen verwüstet, und danach gleich das Stadtzentrum, fast intakt. Entlang dem Boulevard Schewtschenko spielten die ausladenden Linden und Kastanien unter der schönen Herbstsonne schon ins Gelbliche; auf dem Kreschtschatik, der großen Hauptstraße, mussten wir um die Barrikaden und Panzersperren herumfahren, dieerschöpfte deutsche Soldaten mühsam aus dem Weg zu räumen suchten. Häfner hielt Verbindung mit dem XXIX. Korps, von wo man uns zum Sitz des NKWD dirigierte, auf einem Hügel über dem Kreschtschatik, mit Blick über das Stadtzentrum. Das war einmal ein sehr schöner Palast aus dem frühen 19. Jahrhundert gewesen, mit einer langgestreckten gelben Fassade, Gesimsen, hohen weißen Säulen zu
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