Die Wohlgesinnten
sich die entkleideten Verurteilten am Boden der Grube flach auf den Bauch legten und einige Schützen ihnen einen aufgesetzten Schuss in den Nacken verpassten. »Ich bin zwar immer gegen den Genickschuss gewesen«, rief uns Blobel in Erinnerung, »aber jetzt bleibt uns nichts anderes übrig.« Nach jeder Reihe musste ein Offizier sich davon überzeugen, dass alle Verurteilten auch wirklich tot waren; dann wurden sie mit einer dünnen Schicht Erde bedeckt, und die nächste Gruppe musste sich entgegengesetzt auf sie legen; wenn man auf diese Weise fünf oder sechs Lagen aufgeschichtet hatte, schüttete man die Grube zu. Die Teilkommandoführer waren der Meinung, die Männer fänden das zu schwierig, doch Blobel wollte keine Einwände hören: »In meinem Kommando wird es gemacht, wie es der Obergruppenführer verlangt.« Kurt Hans allerdings schien das nicht sonderlich zu stören; ihm war offenbar alles gleichgültig. Ich wohnte mit ihm zusammen mehreren Hinrichtungen bei. Ich konnte bei meinen Kameraden jetzt der Wesensart nach drei Gruppen unterscheiden. Da waren zunächst diejenigen, denen das Töten, selbst wenn sie es zu verbergen trachteten, eine Wollust bereitete; von ihnen war bereits die Rede, sie waren Kriminelle, denen der Krieg gestattete, ihr wahres Ich zu entdecken. Dann gab es diejenigen, die das Ganze anwiderte, die aber, ihren Widerwillen überwindend, aus Pflichtgefühl töteten, aus Ordnungsliebe. Schließlich gab es noch diejenigen, welche die Juden als Tiere ansahen und sie töteten, wie ein Metzger eine Kuh schlachtet, eine vergnügliche oder schwierige Arbeit, je nach Laune oder Naturell. Kurt Hans gehörte offensichtlich zur letzten Kategorie: Für ihn zählte allein die exakte Durchführung, der Nutzeffekt, die Leistung. Jeden Abend zog er peinlich genau Bilanz. Und wie stand es mit mir? Ich rechnete mich keinemdieser drei Typen zu, aber viel mehr wusste ich eigentlich nicht; hätte man mich ein wenig gedrängt, hätte ich Mühe gehabt, eine aufrichtige Antwort zu finden. Denn ich war noch immer auf der Suche nach dieser Antwort. Die Leidenschaft für das Absolute war daran genauso beteiligt wie – eines Tages stellte ich es mit Entsetzen fest – die Neugier: Hier wie bei so vielen anderen Dingen meines Lebens war ich neugierig, bestrebt herauszufinden, wie sich das alles auf mich auswirkte. Unablässig beobachtete ich mich: als wäre eine Filmkamera über mir angebracht und ich wäre gleichzeitig diese Kamera, der Mensch, der filmte, und der Mensch, der den Film anschließend auswertete. Das brachte mich gelegentlich aus der Fassung, und oft fand ich in der Nacht keinen Schlaf und starrte an die Decke, das Objektiv ließ mich nicht in Frieden. Doch immer wieder zerrann mir die Antwort auf diese Frage zwischen den Fingern.
Die Frauen, vor allem die Kinder erschwerten uns die Arbeit manchmal sehr, es versetzte einem jedes Mal einen Stich ins Herz. Die Männer beklagten sich unablässig, vor allem die älteren, die Familie hatten. Angesichts dieser wehrlosen Menschen, dieser Mütter, die zusehen mussten, wie ihre Kinder umgebracht wurden, ohne dass sie sie beschützen konnten, die nur mit ihnen sterben konnten, litten unsere Männer unter dem Gefühl extremer Ohnmacht, fühlten auch sie sich wehrlos. »Ich möchte nur nicht daran zerbrechen«, sagte mir eines Tages ein junger Sturmmann der Waffen-SS, und ich konnte seinen Wunsch sehr gut verstehen, ihm aber nicht helfen. Die Haltung der Juden erleichterte uns die Aufgabe nicht. Blobel musste einen dreißigjährigen Rottenführer, der mit einem Verurteilten gesprochen hatte, nach Deutschland zurückschicken; der Jude, der etwa so alt war wie der Rottenführer, trug ein Kind von ungefähr zweieinhalb Jahren auf dem Arm, seine Frau neben ihm ein Neugeborenes mit blauen Augen; der Mann hatte dem Rottenführerdirekt in die Augen geblickt und in akzentfreiem Deutsch gesagt: »Ich bitte Sie, mein Herr, wenn Sie die Kinder erschießen, machen Sie es ordentlich.« – »Er kam aus Hamburg«, hatte der Rottenführer später Sperath erklärt, von dem wir die Geschichte dann hörten, »er war fast mein Nachbar, seine Kinder waren so alt wie meine.« Ich selbst verlor den Boden unter den Füßen. Bei einer Exekution fiel mein Blick auf einen sterbenden kleinen Jungen in einem Graben: Der Schütze hatte wohl gezögert, jedenfalls hatte die Kugel ihn zu tief, in den Rücken, getroffen. Der Junge zuckte mit den Gliedern, die Augen offen, glasig; und diese
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