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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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machten sie mir Angst.
    Ich kehrte nach Shitomir zurück. Im Kommandostab herrschte helle Aufregung: Bohr befand sich in Arrest und Lübbe im Krankenhaus. Bohr hatte ihn im Kasino – vor den anderen Offizieren – angegriffen, zunächst mit einem Stuhl, dann mit einem Messer. Sechs Mann waren erforderlich gewesen, um ihn zu bändigen, Strehlke, der Verwaltungsführer, hatte eine Schnittwunde an der Hand davongetragen, nicht tief, aber schmerzhaft. »Er ist durchgedreht«, sagte er, indem er mir die Stiche der Naht zeigte. »Was ist denn um Himmels willen passiert?« – »Es ging um seinen Judenbengel. Den, der Klavier gespielt hat.« Jakow hatte einen Unfall gehabt, als er Bauer bei der Reparatur eines Fahrzeugs half: Der schlecht angebrachte Wagenheber war abgerutscht, Jakows Hand zerquetscht worden. Sperath hatte sie untersucht und erklärt, ermüsse sie amputieren. »Dann ist er vollkommen unnütz«, hatte Blobel entschieden und befohlen, ihn zu liquidieren. »Vogt hat sich darum gekümmert«, sagte Strehlke, der mir die Geschichte erzählte. »Bohr hat nichts gesagt. Aber beim Abendessen hat Lübbe Streit mit ihm angefangen. Sie kennen ihn ja. ›Aus und vorbei mit dem Klavier‹, hat er mit lauter Stimme gesagt. Da hat Bohr ihn angegriffen. Wenn Sie mich fragen«, fügte er hinzu, »hat Lübbe nur gekriegt, was er verdient. Aber um Bohr ist es schade: ein guter Offizier und ruiniert seine Laufbahn für einen kleinen Juden. Schließlich herrscht hier doch kein Mangel an Juden.« – »Was passiert nun mit Bohr?« – »Das hängt vom Bericht des Standartenführers ab. Im schlimmsten Fall geht er ins Gefängnis. Ansonsten wird er degradiert und kommt zur Bewährung zur Waffen-SS.« Ich verließ ihn, ging nach oben und vergrub mich angeekelt in meinem Zimmer. Ich konnte Bohr nur zu gut verstehen; natürlich hatte er sich ins Unrecht gesetzt, aber ich verstand ihn. Lübbe hätte sich nicht über ihn lustig machen dürfen, das war infam. Auch ich hatte den kleinen Jakow ein wenig ins Herz geschlossen; insgeheim hatte ich einem Freund in Berlin geschrieben, dass er mir die Noten für Stücke von Rameau und Couperin schicken sollte, Jakow sollte sie einüben, sollte Le Rappel des oiseaux, Les Trois Mains, Les Barricades mystérieuses und all die anderen wunderbaren Sachen entdecken. Jetzt würden die Noten niemand mehr nützen: Ich spiele nicht Klavier. In dieser Nacht hatte ich einen seltsamen Traum. Ich stand auf und ging zur Tür, aber eine Frau stand mir im Weg. Sie hatte weißes Haar und trug eine Brille: »Nein«, sagte sie. »Du kannst nicht hinaus. Setz dich hin und schreib.« Ich wandte mich zu meinem Schreibtisch um: Ein Mann saß auf meinem Stuhl und hämmerte auf meiner Schreibmaschine. »Entschuldigen Sie«, sagte ich schüchtern. Die Tasten verursachten einen ohrenbetäubenden Lärm, er hörte mich nicht. Zaghaft tippte ichihn auf die Schulter. Er drehte sich um und schüttelte den Kopf: »Nein«, sagte er und wies mir die Tür. Ich ging zu meinem Bücherregal, aber auch da war schon jemand und riss in aller Ruhe die Seiten aus meinen Büchern und warf die Einbände in eine Ecke. »Na gut«, sagte ich mir, »dann gehe ich eben schlafen.« Eine junge Frau lag nackt in meinem Bett, unter der Decke. Als sie mich sah, zog sie mich an sich, bedeckte mein Gesicht mit Küssen, schlang ihre Beine um die meinen und versuchte, meinen Gürtel zu lösen. Nur mit großer Mühe gelang es mir, mich ihrer zu erwehren; die Anstrengung hatte mich verstört. Ich dachte daran, mich aus dem Fenster zu stürzen; es ließ sich nicht öffnen, die Farbe hatte es verklebt. Glücklicherweise war das Klo frei, rasch schloss ich mich ein.
     
    Die Wehrmacht hatte endlich den Vormarsch wieder aufgenommen, was uns vor neue Aufgaben stellte. Guderian gelang der Durchbruch, er umfasste bei Kiew die sowjetischen Armeen, vielleicht waren diese auch wie gelähmt und konnten nicht mehr reagieren. Die 6. Armee setzte sich wieder in Bewegung, der Dnepr wurde überquert; weiter im Süden setzte auch die 17. Armee über den Dnepr. Es war heiß und trocken, und die Truppenbewegungen wirbelten haushohe Staubwolken auf; als der Regen einsetzte, freuten sich die Soldaten zunächst, dann verwünschten sie den Morast. Niemand hatte Zeit, sich zu waschen, und die Männer waren grau von Staub und Schlamm. Die Regimenter rückten wie kleine isolierte Schiffe auf einem Meer von reifem Mais und Getreide vor; tagelang sahen sie keine Menschenseele, die

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