Die Wohlgesinnten
grausige Szene überlagerte eine andere aus meiner Kindheit: Ein Freund und ich spielten mit Blechpistolen Cowboy und Indianer. Das war kurz nach dem Ersten Weltkrieg, mein Vater war zurückgekehrt, ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, wie der Junge in dem Graben. Ich hatte mich hinter einem Baum versteckt; als mein Freund sich näherte, sprang ich hervor und leerte das Magazin meiner Pistole in seinen Bauch, indem ich schrie: »Paff! Paff!« Er ließ seine Waffe fallen, griff sich mit beiden Händen in die Magengegend, brach zusammen und krümmte sich. Ich hob seine Pistole auf und wollte sie ihm zurückgeben: »Hier, nimm! Komm, wir spielen weiter.« – »Ich kann nicht. Ich bin tot.« Ich schloss die Augen, das Kind vor mir röchelte noch immer. Nach der Aktion besuchte ich das Stetl , das jetzt leer und verlassen war, ich betrat die Isbas , die niedrigen Hütten der armen Leute, an den Wänden sowjetische Kalender und Bilder, die sie aus Zeitschriften ausgeschnitten hatten, einige religiöse Gegenstände, einfache Möbel. Das hatte ganz gewiss wenig mit dem internationalen Finanzjudentum zu tun. In einem Haus fand ich einen großen Kübel Wasser auf dem Herd, das noch kochte; auf der Erde standen Töpfe mit kaltem Wasser und eine Wanne. Ich schloss die Tür, zog mich aus und wusch mich mit diesem Wasser und einem StückKernseife. Ich gab nur wenig kaltes Wasser hinzu: Es war kochend heiß, meine Haut wurde krebsrot. Dann zog ich mich wieder an und ging hinaus; am Ortseingang standen die Häuser bereits in Flammen. Doch meine Frage ließ mich nicht los, sie beschäftigte mich wieder und wieder: Einmal, am Rande eines anderen Massengrabes, fasste mich ein kleines Mädchen von vielleicht vier Jahren vertrauensvoll an der Hand. Ich versuchte mich loszumachen, aber es klammerte sich fest. Vor uns erschoss man die Juden. » Gde Mama? «, fragte ich die Kleine auf Ukrainisch. Sie zeigte mit dem Finger in die Grube. Ich streichelte ihr Haar. So blieben wir einige Minuten. Alles drehte sich um mich, ich wollte weinen. »Komm mit mir«, sagte ich auf Deutsch zu ihr, »hab keine Angst, komm.« Ich wandte mich dem Eingang der Grube zu; sie blieb stehen, hielt mich an der Hand zurück, folgte mir dann. Ich hob sie hoch und reichte sie einem SS-Mann: »Seien Sie lieb zu ihr«, sagte ich völlig idiotisch zu ihm. Ich hatte eine schreckliche Wut im Bauch, wollte sie aber weder an der Kleinen noch an dem Soldaten auslassen. Der stieg, das Mädchen auf dem Arm, in die Grube hinab, ich wandte mich abrupt ab und ging in den Wald. Es war ein hoher, heller Kiefernbestand, zwischen den weiträumig stehenden Bäumen herrschte weiches Licht. Hinter mir krachten die Salven. Als ich klein war, spielte ich häufig in ähnlichen Wäldern in der Umgebung von Kiel, wo wir nach dem Krieg wohnten, ziemlich eigenartige Spiele übrigens. Zum Geburtstag hatte mein Vater mir einen Schuber mit mehreren Tarzan-Bänden des amerikanischen Schriftstellers E. R. Burroughs geschenkt, die ich immer wieder leidenschaftlich verschlang, bei Tisch, auf der Toilette, nachts mit einer Taschenlampe, und im Wald zog ich mich ganz nackt aus, wie mein Held, schlich zwischen den Bäumen, den hohen Farnen hindurch, legte mich auf das Bett aus trockenen spitzen Nadeln, genoss die kleinen Stiche auf der Haut,kauerte mich hinter einem Busch oder einem umgestürzten Baum auf einer Anhöhe nieder, oberhalb eines Weges, um die zu belauern, die dort spazieren gingen, die anderen , die Menschen. Das waren keine ausgesprochen erotischen Spiele, dazu war ich zu jung, wahrscheinlich hatte ich noch nicht einmal einen Steifen; doch für mich war der ganze Wald zu einer erogenen Zone geworden, einer riesigen Hautfläche, so empfindlich wie meine kindliche Haut, die die Kälte in eine Gänsehaut verwandelt hatte. Wie ich zugeben muss, nahmen die Spiele später eine noch seltsamere Wendung, es war noch in Kiel, aber sicherlich nach dem Fortgang meines Vaters, ich war wohl höchstens neun, zehn Jahre alt: Nackt hängte ich mich mit meinem um den Hals gelegten Gürtel an einem Ast auf und ließ mich mit meinem ganzen Gewicht sacken; in Panik schoss mir das Blut ins Gesicht, meine Schläfenadern pochten, als wollten sie zerspringen, mein Atem wurde zu einem dünnen Pfeifen, schließlich richtete ich mich wieder auf, schöpfte wieder Atem und begann dann von Neuem. Solche Spiele, intensive Lust, grenzenlose Freiheit – das bedeuteten die Wälder einst für mich; jetzt
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