Die Wohltäter: Roman (German Edition)
Erinnerungen aus jener Zeit eintauchten, in der sie sich als junge Idealisten in Lund kennengelernt hatten. Doch ihr Gerede über Gemeinschaft und hehre Ziele klang in Tuvas Ohren staubig und unreflektiert. Offenbar hatten sie viel geredet, aber auf das Gerede war nichts gefolgt. Nachdem sie in Lund ihren Rausch ausgeschlafen hatten, schienen sie es jedenfalls eilig gehabt zu haben, sich selbst mit ihren geradlinigen Karrieren zu verwirklichen. Was damals offenbar ziemlich leicht gewesen war. Ihr Vater hatte sich an der Uni bis zu einem Diplomkaufmannsexamen hinaufgefeiert und dann einen Kredit aufgenommen, um seine erste Importfirma zu gründen. Ihre Mutter hatte Kunst und mehrere Sprachen studiert und arbeitete nun als Innenarchitektin für ihre Freundinnen, die allesamt in Häusern wohnten, die ihrem eigenen glichen. Alle Schulden waren abbezahlt, und ihre vernünftige Altersvorsorge würde dafür sorgen, dass sie bald gemeinsam mit ihren runzeligen, sonnengebräunten Bekannten in Südfrankreich in Vollzeit Golf spielen konnten.
Sie hatten lange damit gewartet, Kinder zu bekommen, und Tuva war im letzten Jahr der siebziger Jahre auf die Welt gekommen – am Tag der Niederlage der Roten Khmer in Kambodscha. Sie blieb ihre einzige Tochter, was eigentlich zur ungeteilten Aufmerksamkeit ihrer Eltern hätte führen müssen. Aber sie konnte sich nie ganz des Gedankens erwehren, dass ihre Eltern sie langweilig fanden und lieber Zeit mit ihren Freunden verbrachten, bei ausufernden Tischgesellschaften und pompösen Wochenendausflügen.
Wenn sie ordentlich viel getrunken hatten, wurde mitunter die Gitarre hervorgeholt, und einer ihrer Bekannten versuchte sich an einer betrunkenen Bob-Dylan-Version. Tuva fand es widerwärtig. Da saßen sie in ihrem farblich perfekt abgestimmten Wohnzimmer, das alle fünf Jahre neu möbliert wurde, und tranken auf die Solidarität vergangener Zeiten.
Tuva war zu dem Schluss gekommen, dass ein kollektiver Wille nicht mehr existierte. Ihre Eltern und deren überhebliche Freunde hatten die Idee von einer Revolution in Beschlag genommen, sie missbraucht und unmodern aussehen lassen. Nicht einen einzigen winzigen Krieg hatten sie ihr übrig gelassen. Die Luxusprobleme, die in der aktuellen Zeit noch übrig waren, bestanden darin, herauszufinden, wie man sich selbst am besten verwirklichte, das hatte Tuva begriffen. Nur mit dem Hippienamen, den ihre Eltern ihr verpasst hatten, musste sie sich arrangieren.
Sie war dankbar dafür, ihr eigenes Ziel gefunden zu haben. Dabei hatte ihr niemand geholfen, und niemand konnte es ihr abspenstig machen. Sie würde ihnen eine Chance geben, sie zu verstehen, aber sie würde nicht ihre ganze Energie darauf verwenden.
Zum Abendessen gab es Lammfilet und Kartoffelkroketten. Bereits nach der Hälfte ihres Fleischstückes wurde Tuva übel, und ihre Augen tränten von der scharfen Knoblauchbutter. Während der letzten Zeit hatte sie nur sehr wenig gegessen, und sie hatte nicht vor, das jetzt wieder zu ändern. Sie war keineswegs eitel, aber überzeugt davon, dass die Kasteiung ihr Bewusstsein stärkte. Außerdem gefiel ihr der leichte Rausch, der eintrat, wenn sie richtig hungrig war.
Die Mutter hatte vorsichtig begonnen, sie über die Schule und die Leiter auszufragen, war dann aber dazu übergegangen, zu lamentieren, warum sie nicht nach Hause zurückkehrte und ihr Studium der Staatswissenschaft an der Universität wieder aufnahm. Eine richtige Ausbildung sei so wichtig.
»Für euch war es in Ordnung, zu feiern und die Sau rauszulassen, als ihr in meinem Alter wart, und gleichzeitig meintet ihr, die Welt zu retten, wenn ihr euch getroffen habt. Aber ich, die ich wirklich versuche, etwas zu tun, soll einfach nur in der Universität sitzen und in meine Bücher starren?«
Papa Bo schwieg.
»Ich möchte nicht länger hier gefangen sein. Ich will in die Welt hinaus. Stockholm ist zu klein für mich. Ich werde verrückt hier.«
»Aber es gibt so viele Möglichkeiten, das zu erreichen, Tuva«, entgegnete ihre Mutter. »Ich möchte nur nicht, dass du in etwas hineingerätst.«
»Ich gerate nirgendwo hinein. Und was ist an dem Weg, den ich gewählt habe, so verkehrt? Wenn ich etwas tun kann, dann möchte ich es auch tun. Jetzt habe ich eine Chance dazu erhalten. Was ist daran so schlecht?«
»Wir möchten nur nicht, dass du in zu extreme Verhältnisse gerätst. In etwas, das vielleicht eine zu große Intensität für dich hat. Du gehst ja so sehr darin auf,
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