Die Wohltaeter
Beruf und wusste, welche Verantwortung damit einherging.
»Was die Versicherung betrifft, so habe ich gerade einen Vorschlag des Gutachters erhalten, dass wir die Krankschreibung aufheben, sobald Ihr Arm wieder geheilt ist. Es sei denn, Ihnen fehlt etwas anderes – und das ist ja der Fall. Deshalb habe ich nicht vor, Sie gesundzuschreiben.«
Ninos fiel auf die Schnelle keine passende Antwort ein. Wie konnten Begriffe wie krank und gesund eigentlich mit dem Wort »Schreibung« zusammenhängen? Mittlerweile hatte er sich an den Ausdruck gewöhnt, aber dann und wann suchte er vergeblich nach einer Übersetzung in einer der zahlreichen anderen Sprachen, die er beherrschte. Da war man entweder krank oder gesund oder lag eventuell im Sterben, konnte aber weder das eine noch das andere geschrieben werden, so weit er sich erinnerte.
»Hören Sie«, fuhr Rask fort, »Sie hatten einen schweren Autounfall. Mehrere Ihrer Knochen sind gebrochen, und vermutlichhaben Sie auch eine Verletzung im Nackenbereich erlitten, über die wir bisher noch nicht viel wissen. Damit werden Sie von nun an immer leben müssen. Vielleicht wird sich einiges bessern, ihr Zustand kann sich jedoch auch verschlechtern. Woran es Ihnen jedoch vollständig mangelt, ist eine Krankheitseinsicht.«
»Was bedeutet das?«
Ninos schämte sich ein wenig dafür, nachzufragen, aber er wollte sichergehen, nichts misszuverstehen.
»Das bedeutet, Sie müssen einsehen und akzeptieren, dass Sie krank sind. Dass Sie nicht einfach aus dem Bett springen und so tun können, als wäre alles wie immer. Sie werden fürchterlich enttäuscht sein, sobald Sie begreifen, dass nichts so sein wird wie zuvor.«
»Aber ...«, begann Ninos. Es wäre wohl absurd zu glauben, er hätte seinen Unfall vergessen. Jeden Abend schlief er mit starken Schmerzen ein und wachte jeden Morgen mit denselben Schmerzen auf, die er nur fluchend und mit starken Schmerzmitteln ertragen konnte. Er glaubte nicht mehr länger daran, wie unendlich spannend und interessant das Leben jeden Tag von neuem ist, sondern stellte fest, dass nichts ihn länger zu interessieren vermochte.
»Aber wie krank bin ich denn dann?«, fragte Ninos stattdessen.
»Abgesehen von Ihren physischen Schäden, die noch nicht vollständig kuriert sind, leiden Sie unter einer Depression. Das ist ganz alltäglich und nichts, was einem peinlich sein muss. Wir beide werden gemeinsam daran arbeiten.«
Ninos war nichts peinlich, er war sich jedoch auch nicht besonders sicher, ob er große Lust hatte, gemeinsam mit diesem bärtigen Arzt, der offenbar alles über ihn wusste, an etwas zu arbeiten .
Rask stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte bedauernd den Kopf. »Das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist Hilfe zur Selbsthilfe.«
Ninos wagte es nicht, noch einmal nachzufragen, was das genau heißen sollte, sondern nickte nur. Diese Strategie würde er nun eine halbe Stunde lang fortsetzen müssen, um das Gespräch so effektiv wie möglich zu gestalten. Zur Abwechslung schob er ab und zu ein Brummen ein. Je erfolgreicher der Besuch bei DoktorRask wäre, desto früher könnte er wieder in der Gaststätte sein – bevor der Koch die Küche zerstört hatte oder in eine Prügelei mit Matay geraten war.
Eine gute Stunde später war Ninos zurück. Als er die kleine Personalecke der Küche betrat, sah er, dass bereits alle eingetroffen waren. Sie tranken Kaffee mit Samir, dem Koch, der gerade Rotweinsauce über eine große Portion gebratene Fleischwurst mit Spiegelei und Kartoffeln goss. Alle sahen auf und grüßten. Einer der Kellner erhob sich und folgte Ninos in den Speisesaal, wo sie das Licht einschalteten, die Musik anstellten und die Tageskarten für den Abend schrieben. »Du«, erinnerte er Ninos nach einer Weile. »Vergiss nicht die Kreditkarte, die neulich jemand hier vergessen hat. Bisher hat sich meines Wissens keiner gemeldet.«
Ninos ging zur Bar und nahm die Karte in die Hand. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, ob sie sich einander an diesem ereignisreichen Abend überhaupt vorgestellt hatten. Aber der Engländer würde wohl von selbst auftauchen, wenn er seine Karte zurückhaben wollte.
Ninos blickte auf und sah zwei Männer mittleren Alters in Kunstlederjacken, die breitbeinig mitten im Restaurant standen. »Wer ist hier der Zuständige?«, fragte der eine.
Ninos, der sich mit gehörigem Respekt für die Operation Gaststättensanierung als alleiniger Verantwortlicher ausgab und gleichzeitig
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