Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
eindringlich an. »Du machst dich auf die Suche nach Baba Jaga. Aber wenn du versagst, dürfen wir ihr nicht erlauben, das Ritual zu Ende zu führen.«
Billi nickte grimmig. »Wirst du dann alles für mich zu Ende bringen?«
» Da .« Er seufzte. »Ich freue mich nicht darüber, aber wenn Wassilissa und Baba Jaga überleben, dann sind wir in doppelter Gefahr. Wir tragen größere Verantwortung als nur die, einem kleinen Kind das Leben zu retten, ganz gleich, wie unschuldig es sein mag.«
»Wow.« Es war, als ob Arthur mit ihr reden würde. Iwan war ganz der heranreifende Anführer. Billi lächelte. »Du musst meinen Dad einfach kennen lernen.«
Geheul ertönte aus dem ganzen Lager. Gestalten bewegten sich wie Schatten am Rande der Lagerfeuer, Silhouetten schlichen aus den hohen Birkenhainen hervor und wieder hinein. Der Wald wimmelte von ihnen.
Billi sah zu, wie zwei der Polenitsy ihre Umhänge abwarfen, sich auf alle viere hockten und binnen weniger Schritte von Menschen zu Tieren wurden. Einige Kinder standen neben ihren Zelten, während ihre Eltern packten. Billi beobachtete einen kleinen Jungen, dessen zotteliges schwarzes Haar mit bunten Stoffstreifen und Plastikperlen geschmückt war; er juchzte vor Lachen, als seine Mutter ihn mit einem sanften Stoß in den Schnee beförderte. Der Junge wälzte sich fröhlich; er trug nichts bis auf Baumwollunterhosen. Dann hob seine Mutter ihn auf und küsste ihn auf die Augenlider.
Jesus . Die Bogatyri und Koschtschei auf der einen Seite und Baba Jaga auf der anderen. Wo zur Hölle war ihr Vater? Sie konnte nicht allein gegen alle kämpfen.
»Er ist tot, weißt du das?«, sagte Billi zu Olga. »Der Junge da drüben – seine Mutter auch. Ihr rast allesamt in den Tod.« Olga versuchte sich abzuwenden, aber Billi verstellte ihr den Weg. »Der Fimbulwinter kommt, wenn wir nichts unternehmen.«
Sie waren neben einem rostig aussehenden Lieferwagen stehen geblieben. Zwei Männer luden Truhen und Kisten auf den Dachgepäckträger. Ein Mann im Parka ging den tiefen Schnee mit einer Schaufel an, hackte das dicke Eis auf, das sich um die Reifen herum gebildet hatte. Die Nacht hallte zornig von Motorendröhnen und Wolfsgeheul wider. Olga schob die Hintertür auf. »Welche Lösung schlägst du denn vor?«
»Ich weiß nur, dass wir diesem … Wahnsinn ein Ende setzen müssen.«
»Es ist kein Wahnsinn. Es ist der Wille der Großen Mutter.« Olga hielt Billi die Tür auf. »Habt ihr nicht ein ähnliches Motto? Deus vult ?«
Billi kletterte gefolgt von Iwan in den Wagen. Es saß schon ein Mann auf dem Beifahrersitz, ein großer Schwede. Zwischen ihm und ihnen befand sich Maschendraht. Er warf einen Blick auf Billi und Iwan und zog dann seinen dicken Parka enger um sich. Olga stieg auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. Die Scheinwerfer leuchteten auf, und das Fahrzeug fuhr ruckelnd an. Schnee glitt von der Motorhaube, als der Wagen sich aus dem verschneiten Graben hervorkämpfte. Olga sah Billi im Rückspiegel kurz an.
Was denkt sie ?, fragte sich Billi. Olga war keine blindwütige Fanatikerin wie ihre Enkeltochter. Sie war die Rudelführerin der Polenitsy und nahm ihre Verantwortung ernst. Das Überleben des Rudels war das Wichtigste, aber die Ergebenheit Baba Jaga gegenüber war den Polenitsy seit Tausenden von Jahren anerzogen worden. Olga wandte den Blick ab, und der Wagen nahm Fahrt auf, holperte über den unebenen Schnee.
Billi betastete die Venusstatuette in ihrer Tasche. Sie rückte näher an Iwan heran und lehnte den Kopf an seine Schulter. Er legte den Arm um sie, und sie ergaben sich beide dem Schweigen.
Sie schnuppert an der Luft und knurrt ihren Schwestern etwas zu. In den frischen Duft des Waldes mischen sich die Gerüche von Asche, Feuer und Menschen. Sie lässt die Krallen spielen und starrt in den Schleier aus Schneeflocken, die vom mondhellen Himmel herabtanzen.
Dort, am Waldrand. Sie sieht Licht aus einem Fenster hervorscheinen und hört den Klang von Gesang und Musik. Aber es ist ein rauer, falscher Klang, der rauscht und knistert, Menschen und ihre falschen Stimmen und Geräusche. Eine dünne Rauchspirale steigt aus dem Schornstein auf.
Billi klettert über den niedrigen Zaun und kommt zu einer Wand aus Stoff. Die Menschenfrau hat die Bettlaken herausgehängt, die nun brüchig vom Frost sind. Billi schnüffelt an dem weißen Stoff, und ihr steigt der sanfte, milchige Duft eines Säuglings zu Kopfe. Sie leckt sich die Lippen.
Ihre Schwestern
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