Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
aufzuheben.
»Billi?«
Sie musste es jetzt tun.
Billi packte Wassilissa an ihren baumelnden Halsketten und hielt sie fest. Sie hob den Dolch.
Oh Gott. Jetzt ist es so weit .
Wassilissa starrte verständnislos zu ihr hoch. Sie schüttelte den Kopf, als ob das hier irgendein Albtraum wäre. Sie hielt sich an Billis Fingern fest, wünschte sich, dass das hier harmlos war, dass sie Billi noch immer vertrauen konnte …
Zustechen!
Billi zwang ihren Arm nach unten, wollte dem Mädchen die Klinge ins Herz stoßen, aber ihr Arm wollte sich nicht weiterbewegen. Wassilissa schaute zu ihr hoch, zu verängstigt, um sich zu rühren.
»Schließ die Augen, Wassilissa. Du wirst nichts spüren.« Billis Stimme brach. Sie presste die Lippen zusammen, und ein Schauer durchlief sie. Sie musste es tun.
Es war ihre Pflicht als Templerin. Das Leben einer einzigen gegen das Leben von Milliarden. Baba Jaga würde den Fimbulwinter auslösen, und die Menschheit würde schrittweise einen langsamen Hungertod sterben. Eine Sekunde skrupellosen Handelns, und die Welt würde gerettet sein. Billi würde keine Zeit mehr haben, Reue zu empfinden; die Werwölfinnen würden sie jeden Augenblick in Stücke reißen.
»Gott, vergib mir!«, sagte Billi. Sie stieß Wassilissa gegen den Felsen und schlang sich die Halsketten um die Hand, um Wassilissa still zu halten. Das Mondlicht beschien das erstarrte Gesicht des kleinen Mädchens, seine Fassungslosigkeit. Es wurde von dem auf Hochglanz polierten Tand und den alten Feuersteinpfeilspitzen widergespiegelt, die Wassilissa um den Hals trug. Kleine Knochen, Edelmetallklumpen, Perlen und eine primitive Statuette hingen allesamt aus Billis Griff.
Primitive Statuette?
Es verschlug Billi den Atem. Sie hielt sie in den Fingern. Die kleine, grob geschnitzte Gestalt einer Frau mit breiten Hüften und einem kleinen Stummel von einem Kopf, alles von dunklen Eisenerzadern durchzogen.
Es war die Venusstatuette.
Eine Werwölfin rammte Billi und stieß sie von Wassilissa weg; die Halskette riss, als die Venus sich löste. Billi und die Wölfin stürzten in den Schnee, und Billi bekam keine Luft mehr. Sie lag schlaff unter der knurrenden Werwölfin, deren gebleckte Reißzähne nur Zentimeter von ihrer Kehle entfernt waren. Halb im Schnee begraben drehte Billi sich weit genug um, um einen Blick auf Wassilissa zu erhaschen. Olga war bereits da und reichte das Mädchen an andere weiter. Zwei Frauen halfen Swetlana auf.
Wassilissa wurde schnell von den Polenitsy umringt, hochgehoben und weggebracht. Erst als sie fort war, bewegte sich die Werwölfin von Billi herunter.
Sie hoben Billi auf. Olga kam auf sie zu.
»Warum hast du sie nicht getötet?«, fragte die alte Frau.
Billi lächelte. Sie schob die Faust in die Tasche und spürte die glatten, kalten Rundungen der an der Tunguska angefertigten Statuette – des einzigen Gegenstands, der Baba Jaga töten konnte.
Oh, das werde ich noch tun .
37
Iwan starrte Billi mit offenem Mund an, als sie zurückgeschleppt wurde. Er schüttelte den Kopf, als könnte er seinen Augen nicht trauen.
Es dauerte nur eine Sekunde, bis er ein langes Gesicht machte. Er war an einen der dicken Holzpfähle in der Mitte des ger gebunden. Sie fesselten Billi gegenüber von ihm an den zweiten. Die Lederriemen schnitten tief in ihre Handgelenke ein, als Olga die Fesseln verdrehte und mehrfach verknotete. Sie riss einmal ruckartig an den Knoten und stellte sich dann zwischen die beiden. Die übrigen Polenitsy waren gegangen, und Olga trat von einem Fuß auf den anderen; ihr Blick wanderte von Billi zu Iwan und wieder zurück. Dann zog sie sich den Mantel zurecht und ging.
Iwan wartete ein paar Augenblicke, dann beugte er sich zu Billi und flüsterte: »Was ist passiert?«
»Ich konnte es nicht tun.« Billi konnte es selbst noch nicht recht fassen. »Ich glaube, ich habe einen anderen Weg gefunden.«
Iwan blinzelte. Er lehnte sich an den Zeltpfosten zurück und verschob die Schultern, um eine bequemere Haltung zu finden. Ein langsames Lächeln breitete sich über seine Lippen. »Ich bin froh, dass du am Leben bist.«
»Ich auch.« Billi versuchte, ihre Hände zu verdrehen, aber das Leder schien ihr in die Haut zu schneiden. Sie spürte jetzt schon, dass ihre Finger kribbelten und taub zu werden drohten.
»Ich kann Baba Jaga töten«, flüsterte sie.
»Das ist unmöglich. Sie ist unsterblich.«
Billi grinste und konnte es sich nicht verkneifen, ihn zu ärgern. »Dann lass dir mal
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