Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
schleichen neben ihr her, als sie sich der Haustür nähern. Durch das Glas sieht Billi die Familie vor ihrem bunten Flimmerkasten sitzen. Sie blinzelt. Das Licht tut weh, und die Geräusche zerreißen ihr die empfindlichen Ohren. Kein Wunder, dass Menschen in diesem Getöse aus hasserfüllten Tönen und Lichtern verrückt werden! Die Menschenfrau lacht, und das Baby in ihren Armen wimmert.
Billi greift nach der Tür. Ihre Hände, die mit glänzendem schwarzem Haar bewachsen sind, berühren den kalten Messinggriff, und ihre Klauen klacken aneinander, als sie ihn umdreht.
Vier Menschen sehen sie an. Jetzt schreit die Frau, drückt das Baby fest an ihr Herz. Der Junge starrt sie an; sein Blick ist leer vor Entsetzen, und der säuerliche Gestank von Urin steigt auf, als er sich in die Hose macht.
Der Mann greift nach dem Schüreisen neben dem Kamin, aber seine Hand zittert.
»Menschenfleisch«, knurrt Billi. Sie und ihre Schwestern werden gut zu fressen haben.
Sie springt.
»Billi!«
Billi erwachte. Iwan starrte sie besorgt an. Ihr Kopf lag in seinem Schoß, wo sie eingeschlafen war.
Gott, sie kochte! Ihre Kleider waren schweißdurchtränkt, und das Haar klebte ihr an der Kopfhaut.
»Geht es dir gut?« Er hielt sie eng an sich gezogen, und sein Gesicht war nahe bei ihrem.
»Was ist geschehen?«, fragte sie.
»Nichts. Nur ein böser Traum.«
Gott sei Dank .
Sie wurde durchgerüttelt, da der Wagen durch die Landschaft holperte. Billi sah durchs Rückfenster die Lichter eines Konvois: Etwa ein Dutzend Fahrzeuge folgten ihnen, während Wölfe dahinter herjagten und in den dichten Wald beiderseits der Straße hinein- und wieder daraus hervorhuschten.
Aber wo war Wassilissa? Billi erhaschte einen Blick auf etwas über ihnen: eine riesige, schwerfällige Fledermausgestalt, die durch den wirbelnden Schnee sauste. Bänder flatterten von den Säumen ihres Umhangs, und ein wilder Freudenschrei durchschnitt den Wind.
Baba Jaga ritt auf dem Sturm.
Billi kämpfte verzweifelt gegen die urtümlichen Empfindungen an, die drohten, sich ihrer für immer zu bemächtigen.
»Du schaffst das, Billi«, flüsterte Iwan.
»Nein«, erwiderte sie. Er wollte sie trösten, aber sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. »Hör zu, du weißt, wo der Stein ist.« Sie nickte zu ihrer linken Hosentasche hinüber. »Wenn ich mich heute Nacht verwandle, dann musst du ihn für mich nehmen und benutzen.«
»Du schaffst das. Ich weiß, dass du es schaffst.« Er streichelte ihr Haar, während Billi ihn umarmte, den Kopf an seine Brust legte und die Augen schloss. Sie lauschte seinem stetigen Herzschlag und versuchte, den Hunger zu vergessen, den sie verspürt hatte, als sie jenes Zimmer betreten hatte.
Es war noch nicht vorbei.
Die lange Nacht zog sich hin. Billi schwitzte und zitterte vor lykanthropischem Fieber. Das Wetter wurde schlechter, und die einzige Erleichterung kam, als der Mond hinter schneevollen Wolken verschwand. Iwan blieb bei ihr, schlief nie und murmelte ihr auf Russisch etwas zu. Billi legte den Kopf auf seine Schulter und konzentrierte sich auf seine sanfte Stimme.
Der Motor ratterte, und das Getriebe knirschte, als der Wagen anhielt. Billi riss die Augen auf.
Olga drehte den Schlüssel in der Zündung hin und her, aber das Geräusch wurde nur noch schlimmer, als würde das ganze Fahrzeug einen epileptischen Anfall erleiden.
Der große Schwede fluchte und sprang aus der Beifahrertür. Olga stieg ebenfalls aus.
Der Sturm hatte sich gelegt, aber es hatte schwerer Schneefall aus einem matten, farblosen Himmel eingesetzt. Die Sonne war irgendwo hinter den Wolken aufgegangen. Erleichterung durchströmte Billi: Jetzt, da der Mond nicht mehr am Himmel stand, konnte sie sich ausruhen.
»Was ist los?«, fragte sie.
Iwan drehte den Kopf und sah nach draußen. »Wir haben die anderen verloren. Der Sturm muss den Konvoi gesprengt haben.«
Der Schwede hievte seinen Werkzeugkoffer aus dem Wagen, als Olga die Motorhaube öffnete. Sie hielt eine Taschenlampe hoch, während der Mann zwischen Schmiere und Stahl herumwerkelte. Er beugte sich weiter über die Motorhaube und beschwerte sich, dass Olga die Lampe nicht richtig halten würde.
Olga schmetterte die Motorhaube auf ihn.
Er stöhnte, und sie tat es noch einmal; ein hohles, schepperndes Geräusch ertönte. Die Beine des Mannes knickten ein, aber er war noch bei Bewusstsein. Er schwang die Arme, aber Olga trat zurück und schlug ihm dann mit der schweren
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