Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
mit Rattenschwänzen war von der atomaren Explosion auf die Wand gebannt worden. Sie war für immer festgehalten, wie sie sich nach dem Lichtschalter reckte.
Sie erreichten das Flachdach und blickten über Tschernobyl hinweg. Die Stadt war eine Ansammlung von Wohnblocks aus Beton. Bäume durchbrachen die Umrisse, da die Wälder von allen Seiten auf die Steine eindrangen. Billi sah Zweige aus den oberen Stockwerken mancher Gebäude hervorragen und dicke Wurzeln, die über verlassene Autos am Straßenrand wucherten.
»Hat ja nicht lange gedauert«, sagte Billi. Nicht lange, bis die Natur sich alles zurückholte, was einst ihr gehört hatte.
Die Schornsteine des Kernkraftwerks ragten am Horizont auf: drei schmale Türme hinter der gewölbten Reaktorhülle.
Die Stille war ohrenbetäubend. Die verlassene Stadt hallte von den Seufzern der Geister wider.
Sie waren nicht hier. Die Templer hatten es nicht geschafft. Wenn ihr Vater am Morgen, als sie ihn angerufen hatte, in Kiew gewesen war, hätte er inzwischen hier sein sollen. Billi verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, die Straßen und Dächer abzusuchen; sie hoffte auf eine Bewegung oder auf Licht, das von Rüstungen oder Klingen reflektiert wurde, aber der Schneefall erschwerte es, überhaupt etwas deutlich zu erkennen. Vielleicht hatte der Sturm in der vergangenen Nacht Arthur und die anderen einen zusätzlichen Tag gekostet. Und jetzt waren ihnen die Tage ausgegangen.
»Das war’s dann wohl«, sagte Billi.
Wassilissa stand neben ihr. Billi streckte die Hand aus, aber das Mädchen wich zurück, vertraute ihr noch immer nicht. Billi ließ die Hand sinken. Wassilissa hatte allen Grund dazu: Nach allem, was geschehen war, würden sie nicht die besten Freundinnen werden.
Freundschaften ließen sich in ihrem Beruf ohnehin nur schwer schließen.
»Sie naht«, sagte Wassilissa. Sie kratzte sich am Kopf und runzelte die Stirn.
»Stimmt etwas nicht? Versucht sie hereinzukommen?«
»Nein.« Wassilissa ließ die Hand sinken. Die Hennabemalung bedeckte ihre Arme bis zu den Ellbogen. Sie drehte die Handflächen nach oben und starrte die seltsamen Muster an; dann schaute sie zu dem Reaktor in der Ferne. »Sieh doch nur, was wir angerichtet haben. Wir haben die Erde so krank gemacht.«
»Das klingt ja, als ob du mit ihr einer Meinung bist«, sagte Billi. Ihre Blicke begegneten sich.
»Sie ist alt und müde, Billi. Sie glaubt, dass sie die Einzige ist, die sich noch um die Erde kümmert. Sie hat gehofft, dass die Menschheit etwas lernen würde, aber das hat sie nicht. Deshalb stirbt sie einfach nicht: Sie glaubt, dass niemand für die Erde sorgen wird, wenn sie einst nicht mehr da ist. Also ist sie im Winter gefangen, und es ist immer kalt.« Tränen strömten über ihre Wangen. Wassilissa bemitleidete Baba Jaga.
Der Himmel wurde rot. Billi beobachtete, wie die Sonne am Horizont versank. Oben am Himmel sah sie den Mond, der noch ein schwacher, verschwommener Kreis war. Aber er war voll und völlig rund. Ihre Haut juckte, und sie lockerte ihren Kragen in dem Versuch, die Hitze hinauszulassen.
»Noch nicht. Noch nicht«, versprach sie sich selbst.
Die dürren Birken raschelten, als das erste Heulen über die schneebedeckte Stadt hinwegscholl. Eine zweite Wölfin fiel mit ein, dann noch eine, bis die Wälder vom Chorgesang der Jägerinnen widerhallten. Olga winkte Billi von unten zu, und Billi rannte hinunter, Wassilissa ein paar Schritte hinter ihr.
Sie versammelten sich vor den Toren des Vergnügungsparks. Olga hatte sich bis auf ein dünnes T-Shirt und Shorts ausgezogen. Ihre nackten Beine und Arme waren von struppigem grauem Fell bedeckt, und ihre Fingernägel hatten sich bereits in Krallen verwandelt.
»Wie viel Zeit haben wir noch?«, fragte Billi.
»Fünf, sechs Minuten«, knurrte die Alte Graue und lauschte aufmerksam auf den Lärm der anrückenden Armee. Sie schnappte mit den Zähnen, die länger und schärfer wurden.
»Wir brauchen etwas Platz.« Billi sah sich um; drei Straßen führten von diesem Park weg, was ihnen Wahlmöglichkeiten verschaffte. »Lass den Motor laufen, falls wir schnell wegmüssen.«
Olga lachte. »Wir kommen nicht weg von hier, junge Templerin. Dies ist der Ort, an dem wir sterben werden.«
»Vielleicht, aber wir nehmen die alte Hexe mit in den Tod.« Billi zog einen ihrer steinbesetzten Pfeile hervor. »Ich brauche Baba Jaga nur auf offenem Gelände und nahe, das ist alles.«
Die Alte Graue knurrte, als Stahl über Stahl
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