Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
Mächtigem gehörte, hatte ihr Auftrieb gegeben. Ihre Ausbildung, ihre Einsamkeit, ihre blauen Flecken – alles hatte etwas bedeutet. Daran hatte sie sich nach Kays Tod geklammert. Die Templer bekämpften die Unholde. Sie kämpften gegen Geister und Ghule und alles übernatürliche Böse, das Jagd auf Menschen machte. Sie beschützten die Unschuldigen.
Billi musterte Kays Gesicht, versuchte, die Antwort zu finden. Er hatte gewusst, dass sein Tod nahte, und hatte sich darauf vorbereitet. Aber das hatte es ihr kein bisschen einfacher gemacht, diejenige zu sein, die zurückgeblieben war. Sie hatte ihr Herz und ihre Gefühle abkapseln müssen. Das war die einzige Möglichkeit gewesen, sich zu schützen. Aber jetzt, nach den letzten paar Tagen mit Wassilissa, empfand Billi anders. Gegen ihren Willen war ihr das Mädchen wichtig. Und Wassilissa hatte all dieses Elend nicht verdient.
Billi hatte Kay getötet, und das hatte sie beinahe zerstört. Jetzt bestand ihre Aufgabe darin, die halbe Welt zu durchqueren und einer Neunjährigen das Gleiche anzutun.
Billi erinnerte sich an ihren letzten Traum. Hatte Kay versucht, ihr zu sagen, dass Wassilissa sterben musste?
Es war hoffnungslos, etwas anderes zu denken. Wenn Baba Jaga Wassilissa in die Finger bekam, würde sie alles zerstören. Was war im Vergleich dazu schon das Leben eines Kindes?
Es blieb kein Platz für Mitgefühl.
Die Tempelritter waren einst ein uralter Kriegerorden gewesen; jetzt waren sie eine Todesschwadron.
So sei es .
Billi sah Kay ein letztes Mal an – dann löschte sie ihn für immer.
16
Der Vulkanausbruch hatte so viel Asche in die Luft geschleudert, dass Flüge in ganz Europa verschoben worden waren. Jetzt, zwei Tage nach der Eruption, war der Rückstau von erschöpften und verärgerten Reisenden immer noch nicht abgearbeitet. Leute schliefen auf Sitzplätzen, auf dem Fußboden, an Wände gelehnt. Lange Auto- und Busschlangen blockierten den Eingang zum Flughafen Heathrow, da Passagiere zu anderen Flughäfen oder in Hotels gebracht wurden; alles wurde von überforderten Flughafenmitarbeitern organisiert.
Billi und die übrigen Ritter schlängelten sich zwischen den Gruppen gestrandeter Passagiere hindurch und kletterten über Berge von wartendem Gepäck. Es war noch nicht einmal sieben Uhr morgens, aber der Flughafen quoll über.
Billi sah sich die Nachrichten auf einem der großen, hoch oben angebrachten Bildschirme an. Die Zerstörung von Neapel war nach wie vor die alles beherrschende Meldung. Beinahe zehn Meter Asche und Gestein waren in den letzten zwei Tagen auf die Stadt gefallen, und erst jetzt gelang es Rettungsfahrzeugen überhaupt, sich der verwüsteten Stadt auch nur zu nähern. Gebäude waren unter dem bloßen Gewicht der herabstürzenden Trümmer zusammengebrochen und hatten zahlreiche Menschen unter sich begraben. Die Asche war mittlerweile so hart wie Beton, und die Bohrer, Hacken und verzweifelten Hände nützten wenig.
Es geschahen aber immer noch Wunder: Vereinzelt kamen Überlebende aus den Tunneln hervor. Sie waren in die unterirdischen Gangsysteme geflohen und hatten sich wieder ins Freie gewagt, nachdem die Ausbrüche geendet hatten. Tausende waren in einem ständig wachsenden Flüchtlingslager versammelt, und Familien studierten lange, an Holzwänden ausgehängte Listen in der Hoffnung, einen Verwandten oder Freund unter den Überlebenden zu finden.
»Es wirkt so hoffnungslos«, sagte eine Frau, die sich ebenfalls die Berichterstattung ansah.
Hoffnungslos? Vielleicht. Aber die Menschen gaben dennoch nicht auf. Billi starrte die kleinen Gestalten an, die sich wie Ameisen durch die riesige, graue Stadt bewegten und gegen das Wüten der Natur ankämpften. Das tat die Menschheit schließlich immer, nicht wahr? Trotz der geringen Erfolgsaussichten kämpfte sie weiter.
Keine Waffen. Arthur wollte nicht, dass irgendwer am Zoll verhaftet wurde, weil er versuchte, heimlich ein Breitschwert mitzuführen. Lance kannte einen Waffenhändler in Moskau aus seiner schlechten alten Schmugglerzeit, und bei dem würde Gwaines Trupp sich eindecken. Arthur hatte Freunde jenseits des Meeres in Finnland, und sie würden den Trupp in Karelien mit Ausrüstungsgegenständen beliefern. Jeder Templer hatte ein Paket mit Elaines Eisenhutumschlägen dabei.
Billi nahm ihren Rucksack ab, während Elaine die Bordkarten besorgte. Sie kratzte sich am Schulterblatt. Die Krallenspuren waren gut verheilt, aber sie hatte nicht vor, sich wieder beißen
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