Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
oder kratzen zu lassen. Sie hatte die stinkende braune Stoffrolle in eine luftdichte Tupperware-Sandwichdose gelegt, aber dennoch schien der Geruch weiterhin an allem zu haften.
Die Tempelritter versammelten sich in der Cafeteria hinter der Passkontrolle. Der Flug nach Karelien ging direkt vor dem nach Moskau.
Arthur kam mit seinem Latte Macchiato zu Billi herüber.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er und setzte sich steif hin. Morgens war das immer so – aber seit wann? Fünfundvierzig war doch nicht so alt. Eigentlich nicht.
»Besser als du, glaube ich.«
»Wie witzig.« Er rührte Zucker in den Kaffee; der Stuhl knarrte, als er sich zurücklehnte. »Es wird schlimm werden, Billi.«
Als ob sie das nicht wüsste. Sie stürzten sich da blindlings in etwas hinein. Hier in Großbritannien hatten die Templer im ganzen Land heimliche Kontakte und Verstecke. Russland war das Unbekannte. Es war das Herzland der Baba Jaga und der Polenitsy. Sie würden mindestens zehn zu eins in der Unterzahl sein.
»Erzähl mir von den Bogatyri«, bat Billi. Alles war so übereilt geschehen, dass sie keine Zeit mehr gehabt hatte, etwas über die russischen Ritter herauszufinden.
»Christliche Krieger, die sich schon vor dem Templerorden zusammengeschlossen haben. Die Russen haben sich nie an den Kreuzzügen beteiligt; ihre Feinde waren nicht die Sarazenen, sondern die Anhänger der alten Lebensweise: Heiden, Hexen, Werwölfe.«
»Und was ist mit diesem Romanow-Typen? Alexej Dingsbums?«
»Alexej Viktorowitsch Romanow. Bitte sprich das richtig aus – er ist von herrschaftlichem Geblüt. Ein Urenkel von Zar Nikolaus, wenn ich mich recht entsinne.« Arthur kratzte sich im Bart und versuchte sich zu erinnern, was er noch wusste. »Angeblich wurden alle Mitglieder der Zarenfamilie zu Beginn der russischen Revolution getötet. So steht es in den Geschichtsbüchern. Aber es hielten sich Gerüchte, dass eine Romanow überlebt hätte – Großfürstin Anastasia. Sie wurde von den Bogatyri gerettet. Seitdem haben ihre Kinder und Kindeskinder in dem russischen Ritterorden gedient und ihn angeführt. Stalin hat sein Bestes getan, sie auszulöschen, und sie gingen in den Untergrund, wie wir. Aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die Bogatyri wieder aktiv geworden, unter Führung von Alexej. Zar Alexej.«
»Wie ist er so?«
Arthur zuckte mit den Schultern. »Ich bin ihm nie begegnet. Aber ich habe gehört, dass er ein Mann von Ehre sein soll.« Er warf einen Blick auf die Anzeigetafel über ihnen. »Es wird Zeit.« Er beugte sich über den Tisch und küsste Billi auf die Wange. »Auf Wiedersehen.«
Die anderen Ritter warteten. Arthur sah aus, als wollte er noch etwas sagen. Er fummelte an seinem Ehering herum. »Hör mal, Billi … Wenn es zum Schlimmsten kommt, mach dir keine Sorgen um mich. Pass auf dich auf.« Er tätschelte ihr den Arm. Es war eine erbärmliche Geste, aber sie wussten beide nicht, was sie sonst hätten tun sollen. »Du schaffst das schon.« Dann wandte er sich den anderen zu.
»Dad, warte.«
Billi wollte etwas sagen. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn lieb hatte. Dass es trotz allem nicht seine Schuld war, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Sie hatte sich dieses Leben ausgesucht.
» Deus vult , Dad.«
Arthur lächelte und nickte. » Deus vult , Billi.«
17
»Na, woran denkst du?«, fragte Elaine, während sie sich über Billi beugte, um aus dem Flugzeugfenster zu schauen. Sie waren über Russland und würden in den nächsten zehn Minuten landen.
Woran dachte sie? Billi starrte auf eine Welt aus verstümmeltem Weiß hinaus.
Sie hatten die vorstädtische Landschaft des südöstlichen England hinter sich gelassen, die Flecken aus Anwesen mit orangefarbenen Dächern und zerstückelten Feldern. Von hoch oben war ihr bewusst geworden, wie klein und provinziell England abseits der Anhäufung von Wolkenkratzern und Parks in London war.
Russland bewegte sich auf einem ganz anderen Niveau. Das Flugzeug schwebte über ein Labyrinth aus monolithischen Wohnblocks, die wie beliebig in der Landschaft verstreut zu liegen schienen. Ein großes Elektrizitätswerk mit fünf schmutzigen Schornsteinen stieß gewaltige Dampfwolken in den Himmel. Der Schnee ringsum war rußverschmiert. Autobahnen verliefen wie Narben quer über riesige Ebenen, schnurgerade und schwarz.
Die Hauptstraßen führten in ausgedehnte Waldgebiete; kleinere Straßen wanden sich zu Ansammlungen von Häusern am Ufer eines Flusses oder
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