Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
Koloss. Wann immer sie an einem Stockwerk vorbeifuhren, ertönte eine Glocke, und die Zahlen über der Tür leuchteten auf.
Der Aufzug hielt im dreizehnten Stock, und die Türen glitten auf.
»Meine Suite«, sagte Koschtschei.
»Die einmal Iwans Vater gehört hat, richtig?«
»Und jetzt mir. Iwan gefällt Ihnen, nicht wahr?« Er zog eine Augenbraue hoch, neugierig auf Billis Antwort. »Das geht allen jungen Frauen so. Der Junge hat Charme.«
»Und Mumm.«
»Ja, ja. Es hat den Romanows nie an Mut gefehlt.« Koschtschei schüttelte den wuchtigen Kopf. »Aber der Junge ist ein Idealist. Er versteht nicht, dass es im Krieg keine Regeln gibt.« Er lächelte, als ob er mit Billi über einen geheimen Scherz lachte. »Anders als Sie, SanGreal. Ich glaube, Sie verstehen das nur zu gut.«
»Was meinen Sie damit?«
»Gibt es irgendetwas, was Sie nicht tun würden, um eine Aufgabe zu erfüllen?« Er strich sich beim Sprechen den roten Bart zu einer ordentlichen Spitze zusammen und zupfte daran, während er sie beobachtete.
Billi konnte nicht antworten. Sie konnte nicht sagen: »Aber ich laufe nicht herum und töte unschuldige Kinder«, da sie genau das vielleicht würde tun müssen, bevor diese Woche um war. Billi senkte beschämt den Kopf.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Koschtschei. »Wenn Iwan Ihnen ähnlicher wäre, würde ich ihm die Bogatyri mit Freuden übergeben.« Er trat aus dem Fahrstuhl und spazierte in einen großen Empfangsraum hinüber. An einer Wand reihten sich hohe Fenster: Das Licht der Morgensonne durchströmte den vornehmen Raum. »Großartig, nicht wahr?«
Morgennebel hing über Moskau. Nur die höchsten Türme durchbrachen den weißen Schleier, und so sahen sie wie Engelspaläste aus, die auf Wolken schwebten. Die verschwommene Morgensonne beschien den Himmel und färbte ihn scharlachrot und rosa. Billi folgte Koschtschei an der Fensterreihe entlang zu einer zweiflügligen Tür; jede Hälfte trug den zaristischen Doppeladler aus dunkler Bronze.
Die Tür führte in eine lange Galerie, die prächtiger und prunkvoller als die in Billis Suite war. Dicke schwarze Marmorsäulen ragten zwanzig Meter hoch auf, um ein Kuppeldach zu tragen, das mit kunstvollen Mosaiken ausgekleidet war. Drei tapfere Ritter zu Pferde kämpften in einem Kreis von Wölfen, ihre Schwerter tiefrot vor Blut und ihre Körper von Krallen zerfetzt und zerrissen. Der Kampf spielte sich in einem verschneiten Wald ab, und im dunkleren Hintergrund stand eine Gestalt, die sich halb aus einer Höhle hervorwagte. Alles, was Billi erkennen konnte, waren funkelnde schwarze Augen und verfilztes graues Haar. Lange, magere Finger umklammerten einen großen, mit Knochen verzierten Stab.
»Baba Jaga«, sagte Billi.
»Sehr gut! Die größte Feindin der Bogatyri.« Koschtschei blickte zur Decke auf. »Die Bogatyri waren die ersten, die Baba Jaga die Stirn geboten haben. Viele Male waren die alten Ritter nahe daran, sie zu besiegen, aber sie zog sich immer weiter in die tiefsten Wälder und dunkelsten Höhlen zurück, um sich zu verstecken. An Orte, an die sich noch nicht einmal der tapferste Ritter wagen würde. Und dort lauert sie, bis heute. Aber ich glaube, sie ist alt und schwach, und wir haben seit hundert Jahren nichts mehr von ihr gehört.«
»Die Ritter hätten sie beinahe besiegt? Wie?«
»Die Männer der Vergangenheit waren große, gesegnete Helden, die zu außerordentlichen Taten in der Lage waren. Solche Menschen gibt es heute nicht mehr.«
Billi ging an den Ausstellungsstücken entlang, besah sich die goldenen Becher, edelsteinbesetzte Ikonen, die Kronen und andere antike Schätze, die auf Sockeln und Podesten aufgebaut waren oder an Ketten von der Decke hingen. Dann ließ ein Gegenstand sie stehen bleiben.
Ein schwerer, vergoldeter Rahmen hing an zwei goldenen Ketten von der Decke. Darin befand sich ein Hemd mit ausgebreiteten Ärmeln, das mit Blumen bestickt war. Der weiße Baumwollstoff war blutbespritzt. Die Brust war mit Einstichen übersät, die Ärmel und der Kragen mit blutroten Flecken bedeckt.
Jemand hatte den Träger sehr, sehr gründlich töten wollen.
»Das Hemd des vurodivyi Rasputin.«
»Des was ?«
»Das bedeutet ›Heiliger Narr‹. Mystiker. Schamane.« Er schaute zu dem blutbefleckten Gewand auf. »Grigori Jefimowitsch Rasputin war all das.« Koschtschei wies auf das schattenhafte Bild der alten Vettel in der Höhle. »Wussten Sie, dass er als junger Mann von den Polenitsy entführt wurde, als
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