Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
Stunden aufgehen, dann konnte sie aufbrechen. Zehn Meilen durch tiefen Schnee? Sie würde vier bis fünf Stunden brauchen.
Aber das bedeutete, dass sie Iwan nicht mitnehmen konnte. Er saß ruhig da und drehte vorsichtig sein Bein in die am wenigsten schmerzhafte Position. Sie kannten einander erst seit ein paar Tagen, aber sie war so weit, dass sie sich auf ihn verließ. Sie würde ihn nicht einfach im Stich lassen: Bevor sie aufbrach, würde sie eine Möglichkeit finden, ihn in Sicherheit zu bringen. Am Morgen würde vieles klarer sein.
Billi drehte sich um, hob ihre Pistole auf, leerte das Magazin und warf die 9mm-Patronen ins Gebüsch. Die stahlummantelten Patronen konnten Menschen töten, aber sie brauchte etwas, was Wölfe töten konnte. Sie lud die Pistole mit fünfzehn von Lance’ Silberkugeln.
Iwan ächzte, als er sich an den Felsen lehnte. Die Nische unter dem Felsüberhang war kalt, aber mit genug Kiefernzweigen konnte man den schlimmsten Wind abhalten.
Billi schlüpfte neben Iwan hinein und überprüfte seine Beinschiene. Dann schmiegten sie sich unter den Decken aneinander, während sie die Flugkarte und das GPS benutzten, um ihre ungefähre Position zu bestimmen. Südlich von ihnen verlief der Fluss Prypjat, der durch Weißrussland und jenseits davon durch die Ukraine floss. Wenn der Fluss nicht völlig zugefroren war, konnten sie vielleicht eine Mitfahrgelegenheit auf einem Boot organisieren. Oder zumindest Iwan. Billi hatte noch Arbeit vor sich.
Das Bein sah im Feuerschein sogar noch schlimmer aus. Billi hatte ihr Bestes getan, um den tiefen Schnitt zu verarzten, aber die behelfsmäßigen Verbände – abgerissene Deckenstreifen – waren bereits blutdurchtränkt. Iwan lag einfach mit geschlossenen Augen da, völlig still. Kein Atemzug regte sich. Billi berührte seine Hand.
Ihr Herz schien stehen zu bleiben. Iwans Hand war eiskalt.
»Iwan?«
»Mmm?« Seine Augenlider zuckten und hoben sich.
»Ich wollte nur sehen, wie es dir geht.«
Gott sei Dank .
Er blickte zu ihr hoch, wild entschlossen, grimmig durchzuhalten. Iwan würde heute Nacht nicht sterben.
Billi schluckte ihre Tränen herunter. Nicht so. Sie hatte schon Kay verloren – sie würde nicht auch noch Iwan verlieren. Was auch immer vor ihnen lag, sie würde es zusammen mit Iwan durchstehen. Ganz egal wie.
Dann saß sie einfach da und lauschte, wie die Bäume im Wind ächzten.
»Erzähl mir von Arthur«, sagte Iwan. Er lag an den Felsen gelehnt und starrte ins Feuer.
Billi zog den Schal herunter, den sie sich ums Gesicht geschlungen hatte. »Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich mit dir über meinen Dad sprechen möchte?«
Iwan lachte. »Billi, was für eine Rolle spielt das denn jetzt überhaupt noch?«
Die Flammen flackerten und zischten, während die Schneeflocken tanzten. Ihr Vater hatte sie großgezogen, nachdem ihre Mutter ermordet worden war. »Wir beide waren allein, seit ich fünf war.«
»Wolltest du deshalb Templerin werden? Um zu sein wie er?«
Billi schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat mich dazu gebracht, dem Orden beizutreten. Ich habe ihn gehasst.«
Ihn gehasst. Ja, das stimmte. Sie hatte ihn jahrelang gehasst. Sie hatte mit zehn Jahren mit der Ausbildung begonnen, und die war brutal gewesen. Die meisten Narben, die Iwan gesehen hatte, stammten von ihren zahllosen Stunden in der Waffenkammer. Je mehr man beim Üben blutet, desto weniger blutet man in der Schlacht . Daran glaubte ihr Vater. So hatte sie mit Schwertern trainiert, mit Dolchen, mit allem, was man als Waffe bezeichnen konnte. Wieder und wieder war sie mit Prellungen oder Schnittwunden in der Schule erschienen, einmal sogar mit gebrochenem Handgelenk. Aber ihr Vater hatte sie nur immer stärker angetrieben. Damit sie bereit sein würde, wenn ihre Zeit gekommen war.
Und ihre Zeit war gekommen, eher als erwartet. Sie hatte dem Todesengel die Stirn geboten und war bereit gewesen.
»Später verstand ich dann, warum mein Vater so war, wie er war. Ich sah die Dinge aus einem anderen Blickwinkel.«
»Was war anders geworden?« Iwan robbte näher heran und zog die Decke so zurecht, dass sie sie beide bedeckte.
»Kay. Der Junge, den ich getötet habe.« Sie schloss die Augen, und er war da.
Sie starrt ihm in die Augen, während der Tod sie schleichend matt werden lässt. Sein Blut läuft warm über ihre Hände, rinnt die Klinge entlang. Sein Brustkorb hebt sich langsam und senkt sich dann.
»Ist schon gut, Billi«, sagt er. Sein Atem ist noch warm
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