Die Wolkenreiter Bd 2 - Kriegerin der Lüfte
Dabei spürte sie, dass sie Pfeilformationen ohne Sattel fliegen konnte, doch es war genau diese Übung, die ihrer Lehrerin ganz besonders große Sorgen bereitete. Das und natürlich die ballettartigen Grazien, mit der die Prüfung der zweiten Klasse abgeschlossen wurde. Um das Diplom zu bekommen, musste sie die Sache mit dem Sattel in den Griff bekommen, und das würde sie, wie sie ja auch alles andere geschafft hatte. Sobald es ihr gelang, wären alle Zweifel über ihre Zukunft verflogen.
Die Sonne war über den Bergen aufgestiegen, und die gefrorenen Zweige der Baumspitzen glitzerten im Licht. Es war Zeit, zur Akademie zurückzukehren. Lark sprach mit Hilfe ihrer Hände und Füße mit Tup, und obwohl er den Kopf schüttelte und noch keine Lust hatte, die kurze Zeit der Freiheit oben in der Luft schon wieder aufzugeben, lenkte er gehorsam nach links, kreiste über dem Anwesen und begann mit dem Landeanflug. Er flog an den Mansardendächern der Ställe vorbei und weiter bis ans Ende der Flugkoppel, wo eine Reihe Fichten die darunterliegenden Hecken überragten. Lark schloss für einen Moment die
Augen, um den eisigen Wind auf ihren Wangen zu spüren. Tup hielt die Flügel still und begann zu gleiten.
Sie öffnete die Augen und blickte nach vorn. Direkt an der Koppel zwischen den Ställen und dem Zaun stand eine schlanke Gestalt in einem schwarzen Mantel. Die Haare waren beinahe so hell wie der Schnee, der auf dem Dach und auf den Säulen lag. Larks Herz setzte für einen Augenblick aus, und sie schrie: »Nein, Tup!«
Bereitwillig, sogar erfreut schlug Tup kräftig mit den Flügeln, und sie erhoben sich wieder in die Luft. Hinter dem Mann sah Lark Erna mit einem geflügelten Pferd aus den Ställen kommen. In der Halle brannte an diesem trüben Wintermorgen Licht, und im Wohnhaus wurde eine Tür geöffnet. Sie würde zu spät zum Frühstück kommen, vielleicht sogar alles verpassen. Sie würde dafür gescholten werden, dass sie einfach heimlich herausgeschlichen war, ohne jemandem Bescheid zu sagen, und dafür, dass sie allein geflogen war.
Welcher Fleckham beobachtete sie vom Ende der Koppel? Fürst Wilhelm oder Prinz Frans? Es spielte keine Rolle. Sie machten ihr beide Angst.
Tup stieg höher nach oben und entfernte sich von der Akademie. Sie flogen über das Wäldchen hinweg, die Hecken und den gewundenen Weg, der auf die Straße führte. Aus einem unwiderstehlichen Impuls heraus lenkte Lark ihr Pferd in Richtung Hochland. Nach Hause.
Sie spürte, wie das Zeichen von Kalla auf ihrer Brust langsam kühler wurde und sich das weiche Holz so tröstend anfühlte wie die zärtliche Hand einer Mutter.
Kapitel 9
P hilippa war beim Frühstück in der Halle, als die Hausdame hereinkam, sich den Weg durch die Schülerinnen bahnte und zu dem erhöhten Tisch ging. Sie trat auf das Podium und lief hinter den anderen Lehrerinnen entlang. Als sie an Philippas Stuhl angelangt war, beugte sie sich zu ihr hinunter und flüsterte: »Meisterin Winter. Graf Inseehl möchte Sie sprechen.«
Philippa erstarrte, und Margret neben ihr hob die Brauen. »Ist das Mersin?«
Philippa legte ihre Serviette auf den Tisch. »Das muss er sein. Bislang gibt es keinen anderen Grafen Inseehl.« Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. »Danke. Ist er in der Eingangshalle?«
»Ich habe den Herrn Grafen in das Büro der Leiterin gesetzt«, erklärte die Hausdame. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass er gern in den Speisesaal kommen wollte.« Sie hatte zu Margret gesprochen, die zustimmend nickte. »Ich habe Kaffee für ihn bestellt und ihn gefragt, ob er bereits gefrühstückt hat. Er sagte, das hätte er schon.« Sie drehte sich um und eilte davon. Philippa folgte ihr.
Sie fand ihren Bruder in Margrets Büro, wo er an dem hohen Fenster hinter ihrem Schreibtisch stand. Er hatte die schweren Vorhänge zurückgezogen und blickte hinaus in den kalten grauen Morgen. Als die Tür hinter Philippa ins Schloss fiel, dreht er sich um.
»Es ist eine ganze Weile her, seit wir dich zu Hause gesehen haben, Philippa.«
»Guten Morgen, Mersin.« Philippa ging entschlossenen Schrittes auf den Schreibtisch zu und blickte ihren Bruder über die Mahagoniplatte hinweg an. Sie legte die Fingerspitzen auf die ledergebundene Genealogie, die dort lag, und imitierte Margrets übliche Geste. »Es tut mir leid, dass ich euch nicht zu Erdlin besuchen konnte. Ich hatte zu tun.«
»Ja. Jessica sagte mir, du hättest eine Nachricht geschickt.«
»Wie geht es
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