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Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman

Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman

Titel: Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanca Busquets
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mehr gibt’s heute nicht. Ich bin pappsatt,echt! Und dann sprang Jofre ihr auch noch bei und rief genervt: Lass sie in Ruhe, Leonor, du kannst sie zum Essen doch nicht zwingen! Ihr Schwiegersohn kritisiert seine Frau gern und lässt an nichts ein gutes Haar. Und so konnte Sandra den Teller mit dem Steak beiseiteschieben, und am Sonntag passierte dann mehr oder weniger das Gleiche. Am Abend sagte Leonor schließlich zu Dolors: Mit Sandra ist alles in Ordnung, Mama, natürlich hat sie Appetit. Sie hat zwar kein Steak gegessen, dafür aber einen ganzen Teller Nudeln und heute Reis. Es besteht kein Grund zur Sorge, sie ist einfach schlank gebaut.
    Und damit war die Sache für Leonor erledigt.
    Entweder sieht Dolors zu viel, oder sie bildet sich die Dinge nur ein. Oder die anderen sind blind. Leonor ist jedenfalls von allen am meisten mit Blindheit geschlagen, aber das weiß Dolors ja schon lange. Bis heute hat sie nicht gemerkt, dass Jofre sie gnadenlos ausnutzt. Zugegeben, als Dolors jung war, hatte sie auch nicht so genau hingesehen und war ein ebensolches Schaf wie Leonor. Doch nach einer Weile waren ihr die Augen aufgegangen, wohingegen ihre Tochter nicht den Eindruck macht, als nähme sie irgendetwas wahr, ihr steht bloß ständig die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben.
    Im Flur hängt ein Spiegel, den sie von ihrer Ecke aus gut sehen kann. Leonor und Martí werfen nur einen raschen Blick hinein, wenn sie die Wohnung verlassen, um zu überprüfen, ob alles gut sitzt, ihre Tochter, ob der Lippenstift nicht verschmiert ist, und ihr Enkel, ob sein Hemdkragen anständig liegt. Jofre und Sandra hingegen stehen ständig davor. Sowie sie kann, betrachtet Sandra darin ihre Figur und verzieht dabei angewidert das Gesicht; sie gefällt sichoffensichtlich kein bisschen. Und auch Jofre unterzieht sein Äußeres einer strengen Prüfung, wenn er sich sicher ist, dass ihn niemand sieht – Dolors ist niemand, zumal sie so tut, als sähe sie ihn nicht. Zuerst nimmt er seine Haare genau in Augenschein, und das eine geraume Weile, als würde er zählen, wie viele graue er schon hat. Danach tritt er einen Schritt zurück und lächelt wohlgefällig seinem Spiegelbild zu, woran Dolors immer ein diebisches Vergnügen hat: Der Kerl ist das genaue Gegenteil von Sandra, vollkommen selbstverliebt, ein wirklich eitler Fatzke. Nach einem verstohlenen Blick in Richtung Küche beginnt er daraufhin, vor dem Spiegel zu posieren, nimmt drei, vier provokative Posen ein, die Dolors dermaßen komisch erscheinen, dass sie meist schnell ihr blütenweißes Taschentuch zücken muss, um das vergnügliche Glucksen zu ersticken, das sie nicht mehr zurückhalten kann. Ein prüfender Blick von Kopf bis Fuß bildet den Abschluss. Und das Ganze drei-, viermal am Tag, wenn er alleine ist, noch öfter. Das heißt natürlich, wenn er mit ihr, dem Hausschatten, alleine ist, der mysteriösen Frau Niemand, die zu nichts anderem mehr taugt, als mucksmäuschenstill in ihrer Wohnzimmerecke zu sitzen.
    Wie sie so dasitzt, kommt Dolors manchmal ihre eigene Großmutter in den Sinn, die das gleiche Schicksal ereilt hatte und die bis zu ihrem Tod auch bei ihrer Tochter lebte, Dolors’ Tante. Allerdings war sie wirklich taub gewesen. Von ihren Besuchen bei ihr erinnert sich Dolors an eine zierliche alte Frau, deren Augen aufleuchteten, sobald sie ihre Enkelin sah. In ihren Augen hatte unheimlich viel Zärtlichkeit gelegen, aber auch unendlich große Lebenserfahrung. Vermutlich hatte sie damals ähnliche Gedanken gehabt wie jetzt Dolors. Im Gegensatz zu ihr konnte ihreGroßmutter allerdings noch sprechen, sie hörte nur nichts mehr. Wäre mir das lieber?, fragt sich Dolors nun, schüttelt aber gleich darauf energisch den Kopf. Zwar hat das Taubsein durchaus sein Gutes, da man sich nicht zusammenzureißen braucht, aber Dolors ist von jeher davon besessen, so viel wie möglich mitzubekommen, und das möchte sie nicht missen, selbst wenn sie nun nicht mehr darüber reden kann.
    Ich arbeitete in der Fabrik, an einem der Webstühle. Antoni wagte nicht, sich zu der Tochter des Direktors zu setzen, obwohl sie ihn ausdrücklich dazu aufgefordert hatte. Sie musste ihm schließlich drohen, dass sie aufstehen würde, wenn er nicht endlich neben ihr Platz nahm. Danach setzten sie sich in der Bücherei immer an denselben Tisch, tagaus, tagein, monatelang, und sprachen über Literatur, Philosophie, Gott und die Welt. Und Antoni, der die intelligentesten Augen der Welt hatte, sagte zu ihr,

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