Die Woll-Lust der Maria Dolors - Roman
… – bis sie ein paar Laute eindeutig identifizieren kann. So eindeutig, dass sie völlig verdattert aufhört zu stricken.
Du lieber Himmel, das kann ja wohl nicht wahr sein! Das Geräusch wiederholt sich, es ist kaum wahrnehmbar, doch sie kennt es genau, Irrtum ausgeschlossen. So hört’s sich an,wenn man sich lang und leidenschaftlich küsst. Und eine halbe Ewigkeit später wieder Danis Stimme, und dann die von Martí.
»Es ist das erste Mal, nicht wahr?«
»Ja …«
Da, ja, jetzt raschelt es gewaltig, so als würden sie überstürzt alles zusammenräumen. Und dann kommen sie aus dem Arbeitszimmer, und Dolors merkt, dass ihr noch immer der Mund vor Staunen offen steht. Schnell macht sie ihn zu, beugt sich geschäftig über ihre Handarbeit und lässt die Nadeln klappern. Wortlos und ohne einen Blick sausen die beiden an ihr vorbei, Martí vorneweg, Dani hinterher. Martí wirkt jetzt ganz verändert, er ist vollkommen von seinen Trieben beherrscht, die für ihre Familie so revolutionär wie die von Teresa sind. Dolors schlägt das Herz jetzt bis zum Hals, halten Sie jegliche Aufregung von ihr fern, hatte der Arzt zu Leonor gesagt, als sie sie aus dem Krankenhaus abholte. Worauf ihre Tochter nur antwortete, seien Sie unbesorgt, bei uns passiert nie etwas, da wird sie es ganz ruhig haben. Wenn Leonor sich da mal nicht irrt, hatte Dolors schon damals gedacht, und nun braucht man ja nur die Ohren aufzusperren, denn Martí und Dani sind jetzt im Zimmer ihres Enkels verschwunden, so wie Sandra dies immer öfter mit ihrem Jaume tut, sie kennt die Arbeitszeiten ihrer Eltern nur zu gut und weiß genau, wann sie mit ihm allein zu Hause sein kann.
Nun also Martí. Obwohl das natürlich schon etwas komplizierter ist. Wie wird Leonor es aufnehmen, wenn sie davon erfährt? Und Jofre, der über Homosexuelle immer nur mit Verachtung spricht und sie unverhohlen als Schwuchteln tituliert? Das geht nicht gegen Teresa, dass das klar ist,hatte er erst neulich erklärt, bei Frauen ist Homosexualität etwas ganz anderes, mit ihnen kann man gut reden, sie sind schließlich wie echte Männer, im Gegensatz zu diesen Schwuchteln mit ihrem weibischen Gebaren. Beim Mittagessen hatten sie sich über einen Freund der Familie unterhalten, der sich gerade geoutet hatte; zum Glück weiß Dolors, was das bedeutet, dank Teresa ist sie mit den speziellen Ausdrücken bestens vertraut. Was für ein Gesicht Martí dabei gemacht hatte, daran kann Dolors sich nicht mehr erinnern, sie hat nicht darauf geachtet, denn es war ihr im Leben nicht in den Sinn gekommen, dass er ebenfalls vom anderen Ufer ist. Aber nun steht es ihr plötzlich klar vor Augen: Natürlich, der nette, einfühlsame Junge ist anders als die Männer, die sie kennt, er schaut sie zärtlich an und ist voller Verständnis für sie. Offensichtlich muss man schwul sein, um mich zu verstehen, denkt Dolors mit einem Anflug von Traurigkeit.
Ganz am Anfang waren Teresa und Jofre dicke Freunde, eines Tages hatte jedoch nicht viel gefehlt, und sie hätten einander die Augen ausgekratzt. Das war in ihrer Wohnung gewesen, viele Jahre vor dem Schlaganfall, als sie noch ihr Bett und ihre ganzen Sachen hatte und eine eigene Bibliothek mit ihren geliebten Büchern und einem Schreibtisch, in dem sie all ihre Geheimnisse aufbewahrte. Wir haben nichts angefasst, Mama, wirklich, es ist alles noch an seinem Platz. Sie wird ihrer Jüngsten Glauben schenken müssen, überprüfen kann sie es nicht; es wäre ihr gar nicht recht, wenn ihre Geheimnisse ans Licht kämen, denn die gehören allein ihr und würden ihre Familie mit Sicherheit schockieren, zumindest Leonor. Teresa hingegen wäre wahrscheinlich baff, arme Teresa, sie hat immer daran geglaubt, mithilfeder Politik und des Feminismus die Welt verändern zu können. Dolors bewundert ihre Älteste, denn sie ist eine unheimlich willensstarke Frau, die immer ihrem Herzen folgt, genau das tut, was sie meint, tun zu müssen, und niemals ihre Prinzipien oder einen Freund verraten würde. Doch macht es ihren Gegnern Angst, dass sie die Dinge stets beim Namen nennt, daher hat sie so viele Feinde, und daher wird sie in der Presse und im Fernsehen auch so viel kritisiert. Die Leute ertragen es einfach nicht, wenn jemand Klartext redet.
Auch Jofre gegenüber nahm Teresa an jenem Tag kein Blatt vor den Mund. Mit zunehmendem Alter sei er zum kleinkarierten Spießer mutiert, warf sie ihm an den Kopf, wenn auch mit einem Lachen, doch Jofre nahm es ihr trotzdem
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